Rede von Bernhard Herrmann 30 Jahre Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

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17.03.2022

Bernhard Herrmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen ist es kaum möglich, auf unsere innerdeutsche Geschichte zurückzuschauen, ohne den Blick auch auf den brutalen Angriffskrieg und das menschliche Leid in der Ukraine zu richten. Die Menschen dort verteidigen ihr Land und die demokratischen Werte vor einem Diktator und Aggressor.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Entschuldigung! – Frau von Storch?

(Beatrix von Storch [AfD]: Ja?)

Ihre Maske hängt wieder woanders.

(Beatrix von Storch [AfD]: Oh!)

Das fällt auch sehr auf. Wir haben gestern schon mehrfach darüber gesprochen. Als Nächstes muss ich Ihnen dann einen Ordnungsruf erteilen.

(Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Das wäre mal Zeit! Immer diese Provokation! – Dr. Götz Frömming [AfD]: Wenn wir schon von Repressionen reden! – Beatrix von Storch [AfD]: Die Nasenspitze hängt raus! Skandal!)

Herr Herrmann hat jetzt wieder das Wort. – Bitte schön.

Bernhard Herrmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Demokratie wünschen sich aber auch viele Menschen in Russland, die sich trotz drakonischer Strafen trauen, gegen das diktatorische Putin-Regime auf die Straße zu gehen. Sie haben nicht vergessen, was sie und ihre Nachbarn verbindet. Auch sie wollen Frieden und Freiheit.

Der Wunsch nach Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung hat auch 1989 viele Menschen in der DDR gegen die SED-Diktatur auf die Straße gebracht. Mutig haben sie sich dem autoritären Regime friedlich entgegengestellt, leisteten Widerstand in einer Diktatur.

Persönlich hatte ich das Glück, die anfangs sehr schwierigen, dann aber ungeheuer befreienden Ereignisse mitzuerleben. Es war nicht sicher, dass es im Herbst 1989 friedlich bleibt. Die Panzerwagen standen hinter unserer Dresdner Studentenwohnung, keine 300 Meter vom Stadtzentrum entfernt. So manch einer von uns entging um Haaresbreite dem drakonischen Zugriff der sich letztmalig aufbäumenden DDR-Staatsmacht. Wer so etwas mit der Situation heute vergleicht, schlägt den Menschen von damals ins Gesicht. Schämen Sie sich auf der Seite der AfD!

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Zum Glück blieb es 1989 friedlich. Um Haaresbreite hätte es anders ausgehen können. Nachdem die staatliche Einheit Deutschlands wiederhergestellt war, trug der überparteiliche Ansatz zu einer gemeinschaftlichen Aufarbeitung zum Zusammenwachsen unseres Landes bei. So in etwa äußerte sich mal Markus Meckel – vollkommen zu Recht.

Es waren die Erfahrungen beinahe dreier Generationen west- und ostdeutscher Abgeordneter mit den diktatorischen Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts und der Blockkonfrontation in Europa, die die Themen und zugleich den langen Atem für ein über sieben Jahre währendes intensives Aufarbeitungsprojekt des Deutschen Bundestages prägten.

Als der erste gesamtdeutsche Bundestag 1992 die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland beschloss, da wussten die Akteure, dass Aufarbeitung sehr viel Arbeit und Zeit für Reflexion, Diskussion und wissenschaftliche Analyse braucht und dass die Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen und deren Folgen sowie die Entwicklung einer Erinnerungskultur langwährende Prozesse sein werden. Deswegen war die Einsetzung einer zweiten Enquete-Kommission Mitte der 90er-Jahre wichtig, die sich mit der Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit auseinandersetzte. Resultate waren die Gründung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 1998 und die Entwicklung einer gemeinsamen Erinnerungskultur an beide Diktaturen in Deutschland.

Viele Opfer der SED-Diktatur leiden bis heute an den Folgen des politischen Unrechts, sind wirtschaftlich und gesundheitlich schlechtergestellt als die durchschnittliche altersentsprechende Bevölkerung. Menschen kamen zu Unrecht ins Gefängnis, wurden psychischem Druck durch Zersetzungsmaßnahmen ausgesetzt, wurden beruflich benachteiligt, und Familien wurden durch Zwangsadoptionen getrennt.

Nicht alle Opfer politischen Unrechts sind bis heute rehabilitiert, wurden entschädigt oder werden angemessen unterstützt. Getanes Unrecht kann nicht wiedergutgemacht werden. Umso wichtiger ist es, dass im Koalitionsvertrag der erleichterte Zugang zu Hilfen und Leistungen für die Opfer und die Einrichtung eines Härtefallfonds vereinbart sind.

Heute, 30 Jahre nach der Einsetzung der ersten Enquete-Kommission, bewegen mich folgende drei Gedanken:

Erstens. Es besteht eine breite, überparteiliche Einigkeit darüber – heute wie damals –, dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur unsere gesamtdeutsche Verantwortung ist und bleibt, da sie Teil unserer gemeinsamen Geschichte ist. Auch das trägt dazu bei, unser Land zusammenzuhalten.

Zweitens. Wir dürfen die Opfer politischen Unrechts niemals vergessen. Wir müssen ihrer würdig gedenken und erinnern. Neben Orten des Gedenkens sind auch Bildungsangebote, wie zum Beispiel durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung, sehr wichtig. Das bedeutet aber auch, dass wir diejenigen, die noch immer ohne adäquate Anerkennung an den Folgen leiden, schnell und stärker unterstützen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Drittens. Gerade in diesen Tagen, wo nach wie vor Diktatoren nicht nur die Menschen in ihren eigenen Ländern unterdrücken, sondern auch Angriffskriege gegen Demokratien führen, müssen wir uns immer wieder vergegenwärtigen, wie wichtig jede und jeder Einzelne im Kampf für eine freie und offene demokratische Gesellschaft ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Simona Koß [SPD])

Auch das gehört zu den Erfahrungen, die ich in zwei grundsätzlich verschiedenen Gesellschaftssystemen machen durfte: In der Demokratie, aber ganz besonders auch in einem Unrechtsstaat wie der DDR kommt es immer auch auf das menschliche Handeln an, auf die Mitmenschlichkeit einer und eines jeden Einzelnen. Mitmenschlichkeit ist deshalb auch Hoffnung und Gebot, gerade für die heutige Zeit.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)