Rede von Kassem Taher Saleh 70 Jahre Volksaufstand am 17. Juni 1953
Kassem Taher Saleh (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Gäste! Der Volksaufstand rund um den 17. Juni 1953 war ein Ereignis mit herausragender Tragweite. Er wurde breit unterstützt: In über 700 Städten und Gemeinden gab es Streiks und Proteste. Ich möchte gerne berichten, was an diesem Tag in Dresden geschah. Im Volkseigenen Betrieb Sächsischer Brücken- und Stahlhochbau und im benachbarten Sachsenwerk arbeiteten insgesamt 7 000 Beschäftigte. Die beiden Frühschichten traten an diesem Morgen in den Streik.
Eine Person war dabei besonders bemerkenswert: Wilhelm Grothaus. Wilhelm Grothaus war Angestellter und wurde zum Streikvorsitzenden gewählt. Er war bis 1932 Mitglied in der SPD und dann in der KPD, war im Widerstand gegen das NS-Regime und saß deshalb auch in Haft. Er forderte in seiner Rede vor den anwesenden Demonstrierenden den Rücktritt der Regierung, freie und demokratische Wahlen, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Senkung der Lebensmittelpreise und die Verbesserung der Sozialfürsorge.
Der Demonstrationszug in der Dresdner Innenstadt löste sich schnell auf, weil die Rote Armee bereits alle wichtigen Gebäude und Plätze besetzt hatte. Noch in der Nacht wurde Grothaus mit anderen Streikleitungen verhaftet und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Eine drakonische Strafe, die zeigt, wie das SED-Regime mit dem Widerstand umging. Wilhelm Grothaus war eine der etwa 15 000 Personen, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 inhaftiert wurden. 15 000 Menschen! Ein großer Teil kam nach kurzer Zeit wieder frei; doch Tausende wurden meist für viele Jahre ins Zuchthaus gesperrt. Dieser schonungslose Umgang mit der Opposition setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort. Die Bürgerinnen und Bürger wurden ausspioniert, Andersdenkende eingesperrt, unliebsame Personen schikaniert.
Der Unmut der Bevölkerung gipfelte dann in der Friedlichen Revolution 1989. Damals hat auch meine Heimatstadt Plauen eine wichtige Rolle bei diesem Ereignis gespielt. Die Kontinuität zwischen 1953 und 1989 ist dabei nicht zu übersehen. Wichtig ist deshalb, den jahrzehntelangen Widerstand zu würdigen und an die mutigen Menschen zu erinnern, die vor 34 Jahren, vor 70 Jahren und in den Jahren dazwischen Widerstand leisteten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)
Einige sind heute hier. Einige werden morgen zur Gedenkstunde anwesend sein. Sie haben meine Hochachtung und meinen tiefsten Respekt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)
Nach dem Fall der Mauer galt und gilt es, das Unrecht aufzuarbeiten und die Betroffenen und Opfer angemessen zu entschädigen. Dazu ist bisher auch viel geschehen. Die Stasi-Unterlagen-Behörde, jetzt im Bundesarchiv, die Bundesstiftung Aufarbeitung und die Einsetzung einer Bundesbeauftragten sind wichtige Meilensteine. Auch die Landesbeauftragten leisten hervorragende und wichtige Arbeit. Die Opferverbände möchte ich ebenfalls ganz ausdrücklich erwähnen. Vielen Dank für Ihren unermüdlichen Einsatz!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)
Doch das ist auch der Knackpunkt. Es gibt weiterhin leider noch vieles, was nicht zufriedenstellend aufgearbeitet ist, viele Entschädigungslücken; die Betroffenen müssen teilweise jahrelang vor Gericht für eine Entschädigung kämpfen.
Es gibt weitere Lücken:
Die Aufarbeitung der Zwangsarbeit, die politische Gefangene in Haft leisten mussten. Es waren inhumane Bedingungen; die Produkte waren auch für Firmen aus der BRD.
Oder das Thema Staatsdoping; viele damalige Sportlerinnen und Sportler kämpfen noch heute für eine Anerkennung.
Genauso die Kinder in den ehemaligen Jugendwerkhöfen, deren Biografien so früh schon zerbrochen wurden und die teilweise lebenslang mit ihren Traumata leben müssen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Oder die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter aus dem Globalen Süden, beispielsweise aus Mosambik, Vietnam oder Namibia.
Auch bei der Bildung müssen wir ran. Laut einer aktuellen forsa-Umfrage sagt das Datum „17. Juni“ nur jeder siebten Person im Alter von 14 bis 29 Jahren etwas.
Wir haben also noch viele Baustellen. Wir müssen die Forschung an den Universitäten und an den Gedenkstätten stärken, die Umsetzung des Mahnmals vorantreiben, die ehemalige Stasizentrale zum Campus weiterentwickeln, das Forum Opposition und Widerstand umsetzen und noch vieles mehr.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Dafür setzen wir uns als bündnisgrüne Fraktion ein.
Eine wichtige Lehre für mich ist aber auch die Solidarität mit anderen Gesellschaften, die heute unter einem autokratischen Regime leiden. Mit unserer Geschichte müssen wir an der Seite von Demokratiebewegungen stehen wie zum Beispiel im Iran oder in Belarus.
Vizepräsident Wolfgang Kubicki:
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Kassem Taher Saleh (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Auch das ist für mich ein Erbe des 17. Juni 1953.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie des Abg. Dr. Jonas Geissler [CDU/CSU])