Rede von Erhard Grundl 70 Jahre Volksaufstand vom 17. Juni 1953

Foto von Erhard Grundl MdB
15.06.2023

Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Gäste auf den Tribünen! Generalstreik – über 1 Million Menschen in der ganzen DDR nehmen am 17. Juni 1953 daran teil. In 700 Städten und Ortschaften, auch auf dem Vorzeigeprojekt der DDR, der Großbaustelle in der Berliner Stalinallee, wird gestreikt. Schaut man sich die Fotos und Filmaufnahmen aus dieser Zeit an, dann sieht man anfangs Straßen berstend voll mit Menschen, viele junge Gesichter, Jugendliche, Männer in Arbeitskleidung und ganz viele Frauen. Anfang der 50er-Jahre versorgten sie oft ihre Familien allein; über 50 Prozent waren berufstätig. Am 17. Juni 1953 stellen auch Frauen ihre Forderungen. Sie steigen auf Tische und halten Reden auf den Demonstrationen. So beschreibt eine Dokumentation des rbb die Lage.

Ein Foto zeigt Streikende in Hennigsdorf. Sie lachen, es liegt Aufbruch in der Luft; Hoffnung darauf, das Leben zum Besseren gestalten zu können. Später am Tag entlädt sich der Zorn. Vom Sturm auf SED-Bezirks- und Kreisleitungen, vom Öffnen des Zuchthauses in der Steinstraße, dem Zug von Tausenden Menschen auf den Hallmarkt in Halle schreibt Uwe Johnson in „Jahrestage“. Die Menschen waren auf der Straße, weil die Versorgungslage schlecht war, weil Arbeitsnormen wieder erhöht worden waren bei gleichem Lohn und steigenden Lebensmittelpreisen. Sie gingen vor allem auf die Straße, weil sie der Diktatur durch die SED überdrüssig waren. Sie forderten freie und geheime Wahlen und den Sturz der Regierung.

Der 17. Juni 1953 markiert vor allem eine Zäsur; denn der Aufstand wurde durch sowjetische Panzer blutig niedergeschlagen. Viele der 55 Getöteten waren unter 25 Jahre alt, darunter viele Jugendliche, vereinzelt auch Kinder. Mit den Toten des Volksaufstandes wurde auch die Hoffnung auf Demokratie und Freiheit in der DDR begraben. Es folgte eine Verhaftungswelle; bis Jahresende 1953 waren es 15 000 Menschen. Die SED erklärte den Aufstand zum faschistischen Putschversuch, von westlichen Kräften organisiert. Unter Folter wurden entsprechende Geständnisse abgerungen. Es traf Bauarbeiter von der Stalinallee und Studierende. Zurück blieb nach den Schüssen vom Potsdamer Platz eine unüberbrückbare Entfremdung zwischen Staatsmacht und Bevölkerung. Bertolt Brecht hatte hierfür eine in Gedichtform gegossene ironische „Die Lösung“ – ich zitiere –:

Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, dass das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes?

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Aber wann und wo hat er das gesagt?)

Am 8. Februar 1950 war das Ministerium für Staatssicherheit gegründet worden. Nach dem 17. Juni stieg die Zahl der Mitarbeitenden erbarmungslos an. Jede kleinste kritische Regung sollte künftig im Keim erstickt werden. Nicht die Menschen, sondern der Staat, die DDR, sollte gesichert werden. Auf der Strecke blieben die Aufbruchsstimmung, das selbstbewusste Aufbegehren, das Lächeln der Hennigsdorfer. Doch obwohl die Unterdrückung wie ein Mantel aus Blei über der DDR-Gesellschaft lag: Den Freiheitsfunken vollständig zu ersticken, das war nicht gelungen.

Nicht zufällig erinnerten die Montagsdemonstrationen 1989 Stasichef Mielke mit Schrecken an den 17. Juni, als Woche für Woche immer mehr Menschen demonstrierten – in Leipzig, in vielen Städten der DDR –, bis die friedliche Revolution der Menschen im Osten Deutschlands in einer einzigartigen Freiheitsbewegung das Ende der SED-Diktatur herbeiführte. Im Januar 1990 rief das Neue Forum zur Aktionskundgebung auf, um das Ministerium für Staatssicherheit mit Fantasie und ohne Gewalt aufzulösen, und viele folgten. 1990 wurde die Stasizentrale in Berlin-Lichtenberg von Bürger/-innen besetzt und die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit gesichert, darunter auch vieles über den 17. Juni. Heute sind diese Akten die Basis des Stasi-Unterlagen-Archivs: 111 Kilometer Stasiakten an 15 Standorten des Bundesarchivs – ein groteskes Zeugnis für den Willen zum Machterhalt gegen den Freiheitswillen eines ganzen Staatsvolkes. Zugleich dokumentiert das Archiv die Kraft der Bürgerrechtsbewegung und ist ein überwältigendes Zeugnis des Mutes der Menschen in der DDR, der Menschlichkeit, der Fantasie und der historischen Weitsicht. Bertolt Brecht hätte das wohl gefallen.

Erlauben Sie mir ein Wort zum Schluss: Ich bin Jahrgang 1963, und dass ich hier als bayerischer Wessi zum Volksaufstand 1953 in der DDR sprechen darf, ist mir eine große Ehre.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Herr Kollege Grundl. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)