Rede von Manuel Sarrazin 80 Jahre deutscher Überfall auf die Sowjetunion

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19.05.2021

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte aus meinem Herzen keine Mördergrube machen. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Linksfraktion diese Debatte angemeldet hat. Und ich möchte ganz am Anfang sagen: Der Herr Gauland hat gesagt, man könne nicht jeden Satz unterschreiben. – Ich kann einen Satz aus eurem Antrag unterschreiben und möchte ihn zitieren:

Der Deutsche Bundestag verneigt sich in Demut vor den Opfern und ihren Angehörigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Das möchte ich hier bekräftigen.

Ich möchte dann aber auch sagen: Natürlich bin ich versucht, darauf einzusteigen, jetzt hier mit euch über Putin zu streiten oder auch nicht oder über Nawalny oder etwas anderes. Ich würde gerne auch so was sagen wie: „Nie wieder Krieg“ gilt auch für Putin.

(Zuruf des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE])

Aber ein echtes Problem ist, dass, wie ich finde, wir wirklich zu wenig Gedenken in Bezug auf die Verbrechen Deutschlands in der Sowjetunion haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir haben eine Gedenkstunde beantragt! Ist abgelehnt worden!)

Wir haben wirklich weiße Flecken. Wir haben zu wenig Zusammenarbeit bei diesem Thema, sowohl mit dem staatlich-russischen Gedenken als auch mit dem alternativen oppositionellen Gedenken.

Leider steht in eurem Antrag kein einziger Satz dazu, dass wir mehr dazu machen müssen. Es steht nicht: Weiße Flecken müssen aufgearbeitet werden.

(Zuruf von der LINKEN: Fangen wir mal hier an, genau!)

Es steht nicht: Wir müssen mehr gedenken. – Mir fehlt das.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir haben einen Antrag gestellt, hier im Haus eine Gedenkstunde zu machen! Abgelehnt worden!)

Ihr macht einen Antrag, wo wir uns über Tagespolitik streiten sollen? Ich möchte mit euch gemeinsam darüber sprechen, wie wir mehr über die Geschichte reden können, um sie, anstatt sie zum uns Trennenden zu machen, zum Gemeinsamen zu machen. Das ist mein Problem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dagmar Ziegler:

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, natürlich.

Vizepräsidentin Dagmar Ziegler:

Bitte, Frau Dağdelen.

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):

Vielen Dank. – Ich stimme ja zu. Wir haben die Bundesregierung gefragt; wir haben eine Kleine Anfrage wegen der Gedenkaktivitäten der Bundesregierung in den ehemaligen Sowjetrepubliken und auch in Deutschland gestellt. Du hast ja gerade von der Sowjetunion gesprochen. Es geht um die ehemaligen Sowjetrepubliken. In der Antwort wird eigentlich nur darauf hingewiesen, dass im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst eine Veranstaltung stattfindet. Also verlagert man das Gedenken der Bundesregierung in ein Museum.

Aber ich habe mal eine Frage. Ihr meint, man müsste mehr gedenken. Die Linksfraktion im Deutschen Bundestag hat im Präsidium des Bundestages einen Antrag auf eine offizielle Gedenkveranstaltung hier im Deutschen Bundestag gestellt. Warum haben die Grünen die Linksfraktion und ihren Antrag auf dieses offizielle Gedenken nicht unterstützt?

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt doch gar nicht!)

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Das stimmt nicht. Wir unterstützen das natürlich. – Mein Problem ist Folgendes: Ich hätte mir gewünscht, dass wir hier gemeinsam über vielleicht unterschiedliche Auffassungen zum Gedenken streiten und über Gedenkpolitik, über Erinnerungspolitik reden. Aber was ihr mit dem Antrag macht und was auch andere machen – das macht nicht nur die Linksfraktion –, ist, dass man sagt: Geschichte war soundso, deswegen gibt es eine absolute Wahrheit aus der Geschichte, und deswegen muss man sich heute mit Putin soundso auseinandersetzen.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das hat doch keiner gesagt! Das ist unredlich!)

Das, finde ich, ist der Fehler.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte heute nicht mit euch darüber streiten, ob die Sanktionen wegen des Ukraine-Kriegs richtig oder falsch sind.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Davon steht nichts im Antrag!)

Ich möchte gern mit euch konstruktiv daran arbeiten, wie wir mehr dafür tun können, dass in Deutschland ein Bewusstsein darüber herrscht, was für Verbrechen geschehen sind. Das ist mein Problem mit eurem Antrag.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das steht nicht im Antrag!)

– Es steht nicht im Antrag. Ich spreche euch auch nicht ab, dass ihr das wollt. Es fehlt mir nur in diesem Antrag. Deswegen versuche ich mit dieser Rede, die Hand auszustrecken, damit wir im demokratischen Spektrum bei diesem Thema Geschichtspolitik versuchen, gemeinsam zu arbeiten.

Ich möchte noch eine Sache sagen, weil sie dazugehört. Zur Wahrheit gehört: Der Krieg begann in den Republiken der Sowjetunion, die zuerst angegriffen wurden, nicht erst am 22. Juni 1941. Der heutige offizielle Umgang des Kremls mit der Geschichte zwischen dem 17. September 1939 und dem 22. Juni 1941 ist ein, wenn nicht das wesentliche Problem, warum man nicht mehr gemeinsam gedenken kann. Dabei war selbst Herr Putin schon weiter, als er vor elf Jahren gemeinsam mit Donald Tusk in Anbetracht der Opfer von Katyn auf die Knie gegangen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Solange diese russische Geschichtspolitik so stattfindet, so lange werden wir leider in der Situation sein, dass wir bei diesen Fragen der Geschichte Probleme in der Zusammenarbeit haben werden.

Abschließend möchte ich sagen: Ich komme aus Hamburg. Hamburg hat eine Städtepartnerschaft mit Sankt Petersburg. Ich bin persönlich zutiefst bewegt von den Geschichten, die ich in den vielen Jahren dort gehört habe. Mich als Fußballfan hat tatsächlich die Erzählung am meisten bewegt, wie Zenit während der Belagerung weitergespielt hat. Ja, das geschah natürlich auch aus propagandistischen Gründen; aber ich sehe diesen Lebenswillen im belagerten Leningrad, den das ausstrahlt. Ich finde, dass wir viel mehr Respekt gegenüber den Opfern in der ehemaligen Sowjetunion und all ihren ehemaligen Republiken haben sollten, und wünsche mir deswegen, dass wir in Zukunft besser und mehr gedenken.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Jürgen Hardt [CDU/CSU])

Vizepräsidentin Dagmar Ziegler:

Danke sehr. – Das Wort hat Thomas Erndl von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)