Rede von Manuel Sarrazin 80. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion

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09.06.2021

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir uns darüber bewusst sind, dass es eine neue Art und Weise von Geschichtskultur gibt – bei uns in Deutschland, aber auch in den Ländern, über die wir reden. Wenn ich in den sozialen Medien sehe, wie vor der Coronazeit junge Menschen mit ihren Eltern und Großeltern, wie Familien zu der Parade am 9. Mai in Moskau oder auch anderswo strömten, dann freut mich dieser Umgang, dieser positive Bezug auf die Väter, auf die Helden, die in der Roten Armee gekämpft haben. Gleichzeitig bin ich todtraurig, wenn ich durch Moskau fahre und bei wahrscheinlich sympathischen Menschen im Auto die Sankt-Georgs-Streifenbänder sehe, die letztlich von einer Solidarisierung mit einem absoluten Unrechtskrieg in der Ukraine aufgrund einer meiner Ansicht nach historischen Fehlannahme zeugen.

Über die Brüche in der Kultur – die Freude der russischen Jugend über den Sieg der Roten Armee auf der einen Seite, die Situation heute auf der anderen Seite – und über die Schwierigkeiten, die ich damit habe, möchte ich heute reden. Denn es wird ein Fehler gemacht, der auch in dieser Debatte gemacht wird, nämlich dass man versucht, absolute Lehren aus der Geschichte zu ziehen, um daraus heutige Politik zu legitimieren. Ich denke, es ist richtig, dass wir die verschiedenen Perspektiven der Geschichte wahrnehmen. Jede der verschiedenen Perspektiven der Geschichte hat ihre Berechtigung. Sie alle haben ihren Ort, und sie alle müssen von uns wahrgenommen werden.

Wir müssen auch darüber reden, wie die Geschichtsrezeption nach dem Krieg politisch genutzt wurde. Dazu gehört auch, dass man anerkennt, dass nach Tschernobyl in den Jahren 1987 bis 1989 eine Veränderung von Geschichtsrezeption in Zentraleuropa und in der Ukraine stattgefunden hat. Deswegen ist es meiner Ansicht nach wichtig, dass wir versuchen, das Gedenken an diesen unglaublich grausamen Krieg von zu viel Tagespolitik freizuhalten. Sie alle wissen, dass ich eine klare Meinung zu diesem Thema habe.

Ich möchte daran ansetzen und sagen: Wir sollten, anstatt zu viel über Sachen zu reden, die alle vielleicht schon wissen, viel mehr darüber reden, was wir zu wenig besprechen, beispielweise über den „Holocaust durch Kugeln“, der bereits angesprochen wurde, über das Schicksal der Zwangsarbeiter, über das Schicksal der Kriegsgefangenen und über die unendliche Grausamkeit dieses Krieges, den Deutschland über die Sowjetrepubliken gebracht hat – nicht Nazideutschland, sondern Deutschland! Der Krieg war von der Wehrmacht als Vernichtungskrieg geplant. Die Wehrmacht hat bewusst geplant, die Kriegsgefangenen verhungern zu lassen und sich selbst von dem Land zu ernähren. Es ist Deutschland gewesen, das diese Verbrechen begangen und diese bis heute historisch zu verantworten hat. Ich hoffe, dass wir dem gerecht werden können.

Wir müssen versuchen, allen Gesellschaften gerecht zu werden: nicht nur, aber auch der russischen Gesellschaft, nicht nur, aber auch der ukrainischen Gesellschaft, nicht nur, aber auch der belarussischen Gesellschaft. Wie vielfältig letztlich die Wahrheit der Rezeption und auch – wenn es sie gibt – die historische Wahrheit dieses Krieges ist, das zeigen die Inschriften, die hier schon genannt worden sind. Vor der Praxis der Parlamentsärztin finden Sie arabische Schriftzeichen baschkirisch-russischer Soldaten. Das zeigt, dass es wichtig ist, an die Geschichte zu erinnern. Aber wenn wir der Vielfalt der Geschichte gerecht werden wollen, sollten wir sie nicht mit aktueller Tagespolitik und absoluten Wahrheiten überfrachten.

Danke sehr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Elisabeth Motschmann, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin.

(Beifall bei der CDU/CSU)