Rede von Frank Bsirske Aktuelle Stunde „Armut in Deutschland“

08.07.2022

Frank Bsirske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Abgeordnete! Wir haben es gehört: 2020 hat die Armut in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht. Noch nie wurde nach Mikrozensus eine höhere Armutsquote in Deutschland gemessen: 13,8 Millionen Menschen leiden unter Armut. In dieser Zahl sind die Verschärfung der Lage im weiteren Verlauf der Pandemie und der enorme Preisanstieg im Zeichen fossiler Inflation noch gar nicht abgebildet.

Was steht dem auf der Kehrseite gegenüber? Ein enormer Zuwachs privaten Reichtums und eine fortschreitende Vermögenskonzentration. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt mittlerweile über 35 Prozent des privaten Vermögens. Allein die DAX-Unternehmen verzeichneten 2021 einen Gewinn von 170 Milliarden Euro und schütten aktuell 70 Milliarden Euro an Dividenden aus. Das Vermögen der zehn reichsten deutschen Familien stieg während der Pandemie um satte 40 Prozent auf nunmehr 230 Milliarden Euro, wenn wir der „Süddeutschen Zeitung“ Glauben schenken wollen. Es gibt also eine stetig zunehmende Konzentration privaten Reichtums dort und eine stetige Zunahme der in Armut Lebenden hier.

2006 lag die Armutsquote noch bei 14,0 Prozent; 2020 waren es bereits 16,1 Prozent. Arm sein, das hieß schon vor Corona, jeden Euro zweimal umdrehen zu müssen. In Zeiten von Corona sind weitere Belastungen hinzugekommen, ist die Not noch größer geworden. Arm sein, das heißt, einem höheren Erkrankungsrisiko ausgesetzt zu sein, es heißt, zusätzliche Aufwendungen bewältigen zu müssen, sich aus ohnehin unzureichenden Mitteln das Nötigste vom Munde absparen zu müssen und gleichzeitig mit dem Wegfall vieler Unterstützungsangebote konfrontiert zu sein, vom Sozialkaufhaus über die Tafeln bis hin zum Schulessen.

Und jetzt, getrieben durch den Zustrom Geflüchteter aus der Ukraine und die Verteuerung alles Lebensnotwendigen, hat sich die Lage weiter dramatisch verschärft. Das trifft Alleinerziehende, trifft Erwerbslose, auch kinderreiche Paarhaushalte und Frauen im Alter besonders, und es trägt dazu bei, dass mittlerweile 25 Prozent der Bundesbürger/-innen den gesellschaftlichen Zusammenhalt ernsthaft bedroht sehen.

Zwingt uns das zum Handeln? Ja, in der Tat. Reagiert hatte ja bereits auch die GroKo, wenngleich unter Führung der Union viel zu spät, dauerte es doch bis Mai 2021, bis endlich alle Hartz-IV- und Grundsicherungsbeziehenden wenigstens einen einmaligen Betrag von 150 Euro ausgezahlt bekamen.

Das hat die Ampel anders gemacht, und sie hat sich schon im Koalitionsvertrag auf eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns verpflichtet, auf die Anhebung der Erwerbsminderungsrente, auf die dauerhafte Stabilisierung des Rentenniveaus, auf Verbesserungen beim BAföG, beim Wohngeld, auf ein Bürgergeld und auf die Kindergrundsicherung. Und: Wir haben geliefert. Wir haben schnell zwei Entlastungspakete geschnürt mit Verlängerung des Kurzarbeitergeldes, ÖPNV-Ticket, Heizkostenzuschuss, 200 Euro für Transferleistungsbezieher/-innen, Kinderbonus, Kindergeldzuschuss und Weiterem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Das bringt spürbare Entlastungen, und zwar insbesondere zugunsten unterer und mittlerer Einkommen,

(Dr. Ottilie Klein [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)

wenn auch mit einer Schwachstelle bei den Nichterwerbstätigen.

Vieles davon erreicht die Menschen nun ab Juli. Das ist gut und auch sehr nötig. Wird das aber reichen, jetzt, wo die Preise durch die Decke gehen und es gerade zu einem Lieferstopp russischen Gases und zu weiterem Preisanstieg kommen könnte? Wohl kaum. Weiterer Handlungsbedarf zeichnet sich deutlich ab, wobei eines ganz klar ist: Wir können mit staatlichen Mitteln nicht allen alles ausgleichen. Umso nötiger ist es, die Entlastungsmaßnahmen auf die zu konzentrieren, die sie am dringendsten brauchen:

(Dr. Ottilie Klein [CDU/CSU]: Ach!)

auf die Menschen in der Grundsicherung und im Hartz-IV-Bezug und auf die mit den geringen und mittleren Einkommen.

(Dr. Ottilie Klein [CDU/CSU]: Machen Sie es doch!)

– Seien Sie mal ganz ruhig mit Ihrer Rentenpolitik! Wenn wir sie weiterführen würden, würden Millionen von Menschen trotz jahrzehntelanger Beitragszahlungen auf Grundsicherungsniveau absinken. Das ist etwas, was wir nicht wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das ist doch Blödsinn, was Sie erzählen!)

Wenn wir die Entlastungsmaßnahmen auf die konzentrieren, die sie am dringendsten brauchen, verbietet es sich, die kalte Progression angehen zu wollen; denn die Verteilungswirkung dabei ist krass einseitig: 50 Prozent kämen dem höchsten Einkommenszehntel zugute, weitere 16 Prozent dem zweithöchsten, während bei den unteren drei Zehnteln so gut wie nichts ankäme. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was jetzt nötig ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Was es braucht, ist ein Zuschlag auf die Regelsätze für Transferleistungsbeziehende. Sinn machen kann eine erneut progressiv besteuerte Energiegeldpauschale, die dann aber auch für Nichterwerbstätige gelten müsste.

(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Nichts steht davon im Bundeshaushalt!)

Nachzudenken ist über einen Gas- und eventuell einen Strompreisdeckel auf eine Grundbedarfsmenge, gegebenenfalls sozial gestaffelt. Das wird in den kommenden Monaten zu konkretisieren sein.

(Lachen des Abg. Thorsten Frei [CDU/CSU])

Wird das Geld kosten? Ja. Wird das womöglich viel Geld kosten müssen? Ja, auch das.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Haben Sie nicht den Haushalt vorgelegt?)

Das wirft dann aber auch die Frage auf, ob das überhaupt vereinbar sein kann

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Nein, mit Ihrem Haushalt nicht!)

mit dem Ziel, 2023 zur Schuldenbremse zurückzukehren, auf Steuererhöhungen bei den Starken in der Gesellschaft zu verzichten,

(Dr. Ottilie Klein [CDU/CSU]: Das sagt das Grundgesetz!)

die Investitionen in Digitalisierung und Transformation massiv hochzufahren und Menschen in Not und Armut und ebenso denen mit den geringen und mittleren Einkommen unter die Arme zu greifen.

Seien Sie sicher: Die Ampel wird sich auch dieser Herausforderung stellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Regieren ist kein „Wünsch dir was“!)

Präsidentin Bärbel Bas:

Nächster Redner: für FDP-Fraktion Dr. Stephan Seiter.

(Beifall bei der FDP)