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29.03.2023

Luise Amtsberg, Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe:

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Koalition dankbar, dass sie diesen Tagesordnungspunkt heute hier im Hohen Haus platziert hat und wir Raum haben, auch ein Jahr nach dem Massaker an wehrlosen Menschen darüber zu sprechen: Butscha, ein kleiner Vorort im Nordwesten Kiews, in dem vor Ausbruch des Krieges rund 40 000 Menschen lebten; Butscha, eine kleine Stadt, die Anfang März vergangenen Jahres von russischen Truppen belagert und am 5. März vollständig unter russische Kontrolle gebracht wurde; Butscha, ein Ort, den vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hierzulande vermutlich kaum jemand kannte.

Als die ukrainischen Sicherheitskräfte am 2. April in die Stadt kamen, fanden sie Dutzende tote Körper auf der Straße. Sie wurden grundlos und offensichtlich wehrlos von russischen Soldaten hingerichtet. Einen Monat lang lagen die Leichen von acht Ukrainern, die die Einnahme der Stadt mit einer Straßensperre zu verhindern versuchten, auf der Jablunska-Straße in Butscha. Erst nach der Rückeroberung war es den Angehörigen möglich, sie würdig zu bestatten.

In den darauffolgenden Tagen wurden immer mehr Tote entdeckt: in Straßen, in Hinterhöfen, in Wohnungen, in Kellern, in Waldstücken, in Fahrzeugen, in sporadisch ausgehobenen Gräbern, in Massengräbern – unter ihnen Frauen und Kinder und alte Menschen, wehrlose und unschuldige Menschen, viele von ihnen offensichtlich exekutiert und zuvor gefoltert und schwer verletzt. Über 400 Menschen hat die russische Armee in diesen Tagen ermordet.

Erst mit der Befreiung von Butscha, Wochen später, erreichten uns hier die Bilder und das Ausmaß der Gewalt. Erst Wochen später erfuhr die Welt, was die Menschen in Butscha durchmachen mussten. Das stellt bis heute eine Zäsur dar. Butscha und seine Menschen sind zum Sinnbild geworden, die Geschehnisse in der Stadt zum Beleg für Unmenschlichkeit und Barbarei, zur traurigen Gewissheit. Die Schicksale von Zivilistinnen und Zivilisten, hingerichtet, kaltblütig massakriert, sie sind unvergessen, und sie mahnen uns jeden Tag.

Meine Damen und Herren, dieser Angriffskrieg, er ist jenseits vom Bösen. Denn Butscha – das mussten die Ukrainerinnen und Ukrainer in den vergangenen Monaten immer wieder leidvoll erfahren – steht heute stellvertretend für die vielen Städte, die überfallen und angegriffen wurden, für Irpin, Isjum, Mariupol, Cherson, Dnipro, Charkiw und für Bachmut und für die vielen weißen Flecken, die es nach wie vor gibt und in denen Kriegsverbrechen begangen werden. Wir sind es den Opfern schuldig, ihrer zu gedenken, die Erinnerung wach zu halten. Wir sind es aber auch den Lebenden und Überlebenden schuldig, all jenen, deren Orte heute besetzt oder die in diesen Minuten von massiver Gewalt bedroht sind,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

den Menschen, die von gezielten Beschüssen ziviler Infrastruktur, von Massenhinrichtungen bedroht sind, die Zwangsumsiedlungen erleben, Folter, systematische Vergewaltigung oder – um auf ein besonders perfides Verbrechen hinzuweisen – die systematische Entführung und Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland.

Wir lesen sie in Zeitungen oder sehen Bilder in den sozialen Netzwerken: die Berichte über Tausende entführte Kinder, in die besetzten Gebiete oder nach Russland deportierte Kinder, Berichte von Kindern aus Waisenheimen, die einfach mitgenommen werden; Berichte von Kindern aus Sommercamps in Russland, die nicht nach Hause reisen dürfen, von Kindern, die ihren Eltern entrissen werden, von Eltern, die nicht wissen, wo ihre Kinder sind. Ich bin der Bundesregierung dankbar; denn sie hat gemeinsam mit den Niederlanden der Ukraine ganz konkrete Unterstützung in diesen Fällen angeboten, gerade weil die Kinder jetzt in Russland sind, gerade weil diese Verbrechen aktuell andauern.

Seit zwei Wochen ist für den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, klar: Auf Grundlage dieser Tatvorwürfe, aufgrund der Berichte über entführte Kinder, hat er einen internationalen Haftbefehl gegen Putin und die russische Kommissarin für Kinderrechte, Lwowa-Belowa, erlassen, und das ist gut so.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, Putin ist ein gesuchter Kriegsverbrecher. Der Internationale Strafgerichtshof weist damit die internationale Staatengemeinschaft an, Putin an den ICC auszuliefern und ihm den Prozess zu machen. Karim Khan zeigt uns, wie klug, schlagfertig und auch schnell der Internationale Strafgerichtshof sein kann. Es wird jetzt entscheidend darauf ankommen, dass die Vertragsstaaten diesen Haftbefehl gegen Putin umsetzen, und selbstverständlich werden wir uns, wird sich die Bundesregierung gegenüber allen Partnerinnen und Partnern dafür einsetzen.

Um allen Opfern dieses Angriffskrieges gerecht zu werden, hoffe ich, dass dieser Haftbefehl um weitere Straftatbestände erweitert wird. Es gibt diesen Haftbefehl auch und gerade weil die internationale Staatengemeinschaft so schnell reagiert und ihre Institutionen mit den ukrainischen Behörden zusammengearbeitet haben. Es darf auch nicht unerwähnt bleiben: Dass Beweise erhoben werden können, dass Zugänge geschaffen werden, das liegt vor allem an der Ukraine. Nach jeder Rückeroberung durch das ukrainische Militär werden Zugänge für Journalistinnen und Journalisten gewährt, werden Ermittler vorgelassen, kooperieren die ukrainischen Behörden mit internationalen Instanzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Ukraine – auch das muss man erwähnen – leistet damit einen großen Beitrag für die Stärkung des internationalen Rechts. Sie zeigt, was ein Rechtsstaat trotz Angriff leisten kann.

Accountability, der Kampf gegen Straflosigkeit, findet im Kleinen und im Großen statt, und die Bundesregierung unterstützt ihn auf allen Ebenen. Deutschland finanziert den Internationalen Strafgerichtshof als zweitgrößter Geber und sekundiert Expertinnen und Experten an das Gericht. Der Generalbundesanwalt leistet in enger Zusammenarbeit mit dem Chefankläger wertvolle Arbeit. Die Bundesregierung unterstützt die ukrainischen Ermittlungen mit forensischem Material und Expertinnen und Experten. Besonders hervorheben möchte ich zum Beispiel die Arbeit der International Commission on Missing Persons, die das Auswärtige Amt mit einer Projektförderung unterstützt. Sie suchen nach Vermissten. Das bedeutet ganz konkret, dass sie Massengräber exhumieren, dass sie Leichen identifizieren, damit Beweise für Kriegsverbrechen sammeln und den Angehörigen – das ist vermutlich das Wichtigste – Gewissheit verschaffen. Ich möchte an dieser Stelle Respekt für diese wirklich nicht einfache Arbeit ausdrücken. Ich glaube, das kann man nicht hoch genug schätzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])

Die Bundesregierung unterstützt natürlich auch die Beschaffung von Mehrheiten auf der großen Bühne der Vereinten Nationen: Ein Jahr nach Butscha gibt es drei Resolutionen der Generalversammlung – die letzte vom 24. Februar, die mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde –, die den russischen Angriffskrieg oder die illegalen Annexionen verurteilen und Russland auffordern, seine Aggression endlich einzustellen. Auch damit hat die internationale Staatengemeinschaft gezeigt, auf welcher Seite sie steht.

Es geht heute und künftig vor allem um eines: Gerechtigkeit für die Opfer und Überlebenden, für die Menschen, die Kinder, Frauen, Eltern und Großeltern, die die russischen Verbrechen am eigenen Leib erfahren haben, zu schaffen. Sie brauchen Hoffnung auf Gerechtigkeit, und das internationale Recht kann das leisten. Denn die größte Schwächung des internationalen Völkerstrafrechts – das wissen wir alle – ist es, wenn Kriegsverbrechen, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn Völkermorde ungesühnt bleiben. Das sehen wir an den traurigen Beispielen russischer Aktivitäten, die uns vor Augen erscheinen in Syrien oder Tschetschenien, wo es der internationalen Staatengemeinschaft nicht oder nur kaum gelungen ist, Aufarbeitung zu leisten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit meinem Besuch in der Ukraine im Januar kann ich die Alarm-App für die Luftangriffe nicht von meinem Telefon löschen. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Warum ist das eigentlich so? Ich glaube, es ist der hilflose Versuch, verbunden zu bleiben mit den Realitäten, was Krieg für die Menschen im Alltag bedeutet. Wenn die Alarm-App „Kiew“ anzeigt, dann denke ich an die Ärztinnen und Ärzte in einer Geburtsklinik, die ich besucht habe, die ihre Patientinnen jedes Mal in den Schutzkeller bringen müssen, dort jedes Mal stundenlang mit ihnen ausharren müssen, die Not-OPs dort im Keller durchführen müssen. Die Menschen berichten mir, dass sie während heftiger Angriffe im Prinzip ihr komplettes Leben in den Keller verlagern. Oder ich denke an das Projekt von Unicef, bei dem Kinder lernen – auch das gehört zur Realität dazu –, Minen zu erkennen, weil das ihre Realität in den nächsten Jahrzehnten sein wird, eben weil es so viele Verminungen gibt. Kinder müssen wissen, was ihnen passieren kann, wenn sie nicht aufmerksam sind und Minen nicht erkennen. Das alles sind keine Extrembeispiele, sondern es ist der Alltag von Menschen in der Ukraine. Ich glaube, das hier noch einmal deutlich zu machen, ist wahnsinnig wichtig. Es ist wichtig, deutlich zu machen, dass wir an der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer stehen, beim Kampf um Gerechtigkeit und vor allen Dingen um Frieden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Ina Latendorf [DIE LINKE])

Meine Damen und Herren, Butscha ist traurige Erinnerung, aber es ist auch traurige Gegenwart. Ich möchte das explizit sagen, um denen zu antworten, die nach wie vor glauben, man könne mit Putin über Frieden verhandeln, oder die glauben, dass die Lieferung von Verteidigungswaffen diesen Krieg gegen die Ukraine anheizt. Das geht an all jene, die sagen, die Ukraine sei selbst schuld, schließlich habe sie sich nach Europa gewandt. All jenen möchte ich sagen: Mit dieser Haltung gibt man denen Recht, die sich nicht an Humanität und nicht an das internationale Recht halten wollen. Man erklärt das Recht des Stärkeren zum Grundsatz. Man leistet denen Vorschub, die bereit sind, ihre Macht am rücksichtslosesten auszuspielen. Bitte verwechseln Sie nicht den eigenen Wunsch nach Normalität – den man ja verstehen kann – mit Friedenspolitik in der Ukraine. Denn für die Ukrainerinnen und Ukrainer würde es nichts anderes bedeuten als Tod oder im besten Fall ein Leben in Unfreiheit, in Angst, Gewalt und Zerstörung. Diesen Anspruch – ich glaube, das sollten wir uns alle aufgeben – dürfen wir nicht infrage stellen. Putin darf diesen feigen und menschenrechtsverachtenden Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Der Kollege Knut Abraham hat das Wort. Wir müssen nur sehen, ob jetzt die Zeitanzeige funktioniert;

(Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Die brauche ich nicht!)

es gab deswegen eine kleine Irritation. Sie können schon mal ans Rednerpult kommen, und dann probieren wir das. – Geht es jetzt? Ist da eine Anzeige bei Ihnen?

(Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU], an den Abg. Knut Abraham [CDU/CSU] gewandt: Dann darfst du so lange reden wie du willst!)

– Nein, das darf er nicht. – Ich werde Sie so eine halbe Minute vorher darauf aufmerksam machen, dass die Redezeit bald zu Ende ist; dann müssen wir das händisch machen. Das probieren wir jetzt aus. Die Technik wird sicherlich versuchen, das zu korrigieren.

Der Kollege Knut Abraham für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)