Rede von Lamya Kaddor Aktuelle Stunde „Einwanderung“

Lamya Kaddor
28.09.2023

Lamya Kaddor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen! Lassen Sie mich zunächst mal eine Vorbemerkung machen: Auch ich bin stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Dort bekomme ich wie die Kolleginnen und Kollegen von der Union regelmäßig Berichte über Afghanistan und Syrien. Das sind die Staaten, aus denen aktuell die meisten Menschen nach Deutschland fliehen. Das wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU; denn Sie haben im Ausschuss ja dieselben Informationszugänge wie wir, dieselben Zahlen des BAMF. Ich komme darauf gleich zurück.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, uns allen entgeht nicht: Migration ist im Moment das bestimmende Thema des gesellschaftlichen und politischen Diskurses. Umso größer ist unser aller Verantwortung als Demokratinnen und Demokraten, dem Thema mit Sachlichkeit und ohne parteipolitische Polarisierungen zu begegnen. Ja, wir müssen Antworten finden – funktionierende, menschenwürdige – und dürfen keine – wie gestern Friedrich Merz – der AfD hinterhergehechelten Erzählungen vortragen. Sie zündeln schon wieder. Das sind Ihre Antworten auf die Migrationslage, indem Sie fremdenfeindliche Abwertungen gegen die Schwächsten in unserem Land bedienen?

(Josef Oster [CDU/CSU]: Was ist denn Ihre Antwort?)

Sie legen mit dem Begriff der Integrationsgrenze eine Obergrenze 2.0 auf, was diese Debatte ins Nirwana führt, da es in letzter Konsequenz bedeuten würde, das Grundrecht auf Asyl aufzugeben. An dieser Frage ist die Union 2017 beinahe zerrissen. Wann ist denn der eine oder die eine zu viel? Kann es dann ein Kind oder eine Frau mit Kind oder eine Familie sein? Und lassen wir dann nur zwei Kinder hier, und den Rest schieben wir zu den Taliban ab? Wie stellen Sie sich das eigentlich vor?

Warum fliehen denn die Menschen aus Syrien und aus Afghanistan oder aus der Ukraine? Weil die tödlichen Gefahren in der Ukraine groß sind. Weil das Assad-Regime zwar mit allen Mitteln versucht, sich in der Region zu stabilisieren, aber Menschenrechtsverletzungen auch weiterhin zur traurigen Realität gehören. Und der Hunger in Afghanistan ist so allgegenwärtig, dass Familien ihre eigenen Kinder verkaufen.

Was ist also Ihre Perspektive? Ihre Antwort ist: Sie wollen Aufnahmeprogramme wie das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan lieber einstellen. Aber damit nicht genug: Sie wollen die Liste der sicheren Herkunftsländer auf Tunesien, Marokko und Algerien ausweiten. Offenbar ist Ihnen entgangen, wie die menschenrechtliche Lage in diesen Ländern derzeit ist. Journalistinnen und Journalisten, Aktivistinnen und Aktivisten usw. werden inhaftiert, Oppositionelle mit Scheinklagen überzogen und unterdrückt. In Gefängnissen wird gefoltert. Die sexualisierte Gewalt gegen Frauen bleibt meist ungeahndet. Geflüchtete werden einfach in der Wüste zurückgelassen. Ist das Ihre Vorstellung von Humanität? Ein Rechtsstaat kann sich nicht abschotten.

(Dr. Harald Weyel [AfD]: Auch ein Rechtsstaat hat eine Inlandsbevölkerung!)

Wir respektieren das Völkerrecht. Wir respektieren die Werte von Freiheit und Gleichheit. Wir glauben an das Grundrecht auf Asyl. Das macht doch Europa aus, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

„Abschottung, um jeden Preis“, das schrieb „Die Zeit“ letzte Woche, „… wäre eine historische Schmach.“ Recht hat sie. Es wäre eine historische Schmach. Wollen Sie denn wirklich verfolgte Mütter und Kinder abweisen oder doch nur Männer, deren Vornamen Ahmad, Mustafa oder Ali lauten?

Vielleicht sollten Sie mal in sich gehen und überlegen, wofür das C in Ihrem Parteinamen eigentlich steht. Ich kann Ihnen als Islamwissenschaftlerin gerne dabei helfen. Das C ist vor allem von einem zentralen Gedanken geprägt, dem der Metanoia, der Umkehr. Ich appelliere daher an Sie: Kehren Sie zurück! Hören Sie auf, das Thema Migration mit plumpen Narrativen und Scheinlösungen für den Wahlkampf zu instrumentalisieren! Machen Sie sich ehrlich! Sichere Herkunftsländer werden das Problem nicht lösen, vor allem, weil die Hälfte der Menschen, die zu uns kommen, aus Syrien oder Afghanistan stammt. Oder kommt demnächst der Vorschlag von Ihnen, mit Assads Schergen Rückführungen zu organisieren? Mit den Taliban? Mit wem sollen wir es machen?

Sehr geehrte Damen und Herren, die komplexe Aufgabe der Migration braucht komplexe Antworten, vielschichtige Lösungen.

(Josef Oster [CDU/CSU]: Aber Sie liefern keine!)

Dazu gehören – hören Sie gut zu! – ein verbindlicher europäischer Verteilmechanismus, der auf Solidarität, Humanität und Ordnung setzt, zügige, faire Migrationsabkommen auf Augenhöhe – der Sonderbeauftragte wird sicher bald erste Ergebnisse liefern –,

(Josef Oster [CDU/CSU]: Ja! Toll!)

die massive Anwerbung von Arbeits- und Fachkräften, die Abschaffung der Arbeitsverbote für Geflüchtete, die Sie selbst jahrelang aufrechterhalten haben, deutlich mehr finanzielle und strukturelle Unterstützung für die Kommunen. Diese Maßnahmen werden kommen.

Erlauben Sie mir zum Schluss noch ein persönliches Wort. Die Wortwahl und die Tonlage solcher Debatten wirken sich nicht nur verheerend auf die Geflüchteten in diesem Land aus, sondern auch auf ausländische Fach- und Arbeitskräfte. Lassen Sie es nicht so weit kommen, dass sich all diese Menschen, ja selbst Deutsche mit Einwanderungsgeschichte, die hier inzwischen in der dritten, vierten und fünften Generation leben, hier fremd fühlen müssen. Das wäre – um in Ihrer Rhetorik zu bleiben – tatsächlich der Untergang des Abendlandes.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)