Rede von Lamya Kaddor Aktuelle Stunde: Silvester

Lamya Kaddor
18.01.2023

Lamya Kaddor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! Gewalt gegen Rettungskräfte, gegen Polizistinnen und Polizisten und gegen die Feuerwehr ist leider kein neues Phänomen. Die Qualität der Gewalt während der Silvesternacht war allerdings neu. Wir müssen also darüber sprechen, dass ehren- und hauptamtliches Engagement von Einsatzkräften teilweise lebensgefährlich geworden ist. Ich möchte daher zunächst den Einsatzkräften von hier aus meinen größten Respekt für ihre Arbeit aussprechen und den Verletzten gute Besserung wünschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Die von der Union beantragte Aktuelle Stunde hat einen interessanten Titel.

(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: „Silvesterkrawalle“?)

Geht es Ihnen tatsächlich um den „deutschen Staat“? Sprache ist ja durchaus verräterisch, und die Union hat sich nun mehrfach durch ihre Sprache und mangelnden Inhalt verraten.

Schon bald nach den Gewalttaten in der Silvesternacht wollten Sie die Vornamen der Täter wissen, weil Ihnen die Auskunft nicht reichte, dass es junge alkoholisierte Männer sind. Kollege Spahn markierte dann auch schnell den westasiatischen, dunkleren Phänotypus. Besonders Friedrich Merz, der schon gar nicht mehr hier sitzt – hat er wohl nicht ausgehalten –,

(Peter Beyer [CDU/CSU]: Der Mann ist klug!)

hat sprachlich aufgerüstet und eine Welle der Empörung ausgelöst. Im Fernsehen erstellte er zügig einen Steckbrief von Kindern, die kriminell werden: arabischstämmige „kleine Paschas“. – Haben Sie mal für einen Moment an so ein unschuldiges Kind mit arabischen Wurzeln gedacht?

(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Was mag es empfinden, wenn es diese Worte von Ihnen hört? Müssen sich nun arabischsprachige Eltern darüber Gedanken machen, wie sie ihre Kinder besser nicht nennen, damit diese dann nicht von Ihnen unter Generalverdacht gestellt werden?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Sprachlich und ideologisch schließt sich Ihr Wording an das an, was Sie schon zu Geflüchteten, zum Chancenaufenthaltsgesetz oder zum anstehenden Staatsangehörigkeitsgesetz sowie zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz verwendet haben. Da wird mit „Sozialtourismus“ Kremlpropaganda bedient. Oder es werden Menschen durch Formulierungen wie „Verramschen der deutschen Staatsbürgerschaft“ verächtlich gemacht.

(Beifall des Abg. Andreas Audretsch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir kennen solche Erzählungen von Ihnen leider schon seit Jahrzehnten. Sie evozieren Bilder einer deutschen Leitkultur, die Sie zwar selbst nicht definieren können, die aber angeblich von vielen Fremden unterwandert wird. Das ist brandgefährlich.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Josef Oster [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was zu den Krawallen!)

Damit treiben Sie das Land in Richtung Trumpisierung. Sie spalten und bringen Bevölkerungsgruppen gegeneinander in Stellung, Sie zündeln sehenden Auges;

(Josef Oster [CDU/CSU]: Wir reden über Angriffe auf Polizisten!)

und das, meine Damen und Herren, muss mindestens genauso deutlich benannt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN)

Sie zeigen mit dem Finger auf Menschen mit Migrationshintergrund und merken nicht, dass mindestens jede vierte Person hier in Deutschland eine Einwanderungsgeschichte hat; mindestens ein Elternteil ist also irgendwann zugewandert. Sie verkennen auch, dass während der Silvesterkrawalle nicht nur auf der einen Seite Männer mit Migrationshintergrund standen. Es gab sie auf beiden Seiten. Unsere Gesellschaft ist in allen Teilen divers und interkulturell geworden.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ja, eine transgenerationale Gewalterfahrung kann hier eine Rolle spielen, auch im Kontext von Migration.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Ursache müssen wir benennen. Doch keine ernstzunehmenden Forschenden haben den ethnischen und kulturellen Hintergrund so sehr wie Sie hervorgehoben. Und umgekehrt verschweigen auch keine ernstzunehmenden Forschenden diesen Fakt. Sie ordnen ihn nur ein in die Komplexität, die menschliches Handeln erklärt. Das reicht Ihnen aber nicht. Sie wollen, dass Herkunft als das Hauptproblem wahrgenommen wird. Das aber erfüllt Kriterien rassistischer Ressentiments, nämlich – lesen Sie nach –: Naturalisierung, Essentialisierung, Polarisierung, Hierarchisierung. Das betreiben Sie durch Ihre Sprache, liebe CDU/CSU.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Bitte nutzen Sie heute die Möglichkeit, und distanzieren Sie sich von diesem Vokabular und den Forderungen der Berliner CDU. Kommen Sie zurück vom rechten Rand in die demokratische Mitte.

(Josef Oster [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was zu den Krawallen!)

Wir brauchen Sie da übrigens.

Die Ursachen für solche Gewaltexzesse sind immer individuell.

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Die sind auch gruppenbezogen, nicht nur individuell! – Nina Warken [CDU/CSU]: Reden Sie auch mal zum Thema?)

– Hören Sie doch einmal zu, wenn Sie das schaffen. – Allgemein liegen sie im Alter, im Geschlecht, im sozioökonomischen Status, in Bildung und Erziehung, in Diskriminierungserfahrung begründet, kurz: in der Sozialisation.

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Und in der Kultur! Verhaltenskultur!)

Das gilt für jede Gesellschaft.

Viel zu wenig beleuchtet werden die Auswirkungen der Infektionsschutzmaßnahmen während der Coronapandemie oder gar die Auswirkungen des Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die Sozialisation junger Menschen. Was macht das mit jungen Menschen in diesem Land? Eine migrantische Sozialisation, die auch nur individuell verläuft, weil es nicht die eine migrantische Sozialisation gibt – was soll das sein? –,

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Es gibt aber eine Gruppenkultur!)

steht vielleicht an vierter oder fünfter Stelle, aber eben nicht an erster, wie Sie es gerne hätten.

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das behaupten Sie!)

– Fühlen Sie sich ruhig angesprochen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wer Stereotype aus politischem Kalkül bedient, schadet Millionen von Menschen, die es ebenso zu schützen gilt.

(Beatrix von Storch [AfD]: „Mann“ ist auch ein Stereotyp! „Jung“ ist auch ein Stereotyp!)

Es ist wichtig, dass sich Demokratinnen und Demokraten in der parlamentarischen Auseinandersetzung mit diesen Attacken nicht auseinanderdividieren lassen und konstruktive Lösungsansätze finden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie haben ja keine! Welche haben Sie denn?)

Dazu hat ja unsere Familienministerin Lisa Paus in Ihren Ausführungen die wichtigsten Punkte genannt. Und selbstverständlich muss es darum gehen, schnelle Strafverfahren einzuleiten und Täter zu bestrafen.

Ich möchte mit einem Punkt enden: Wir müssen als Repräsentantinnen und Repräsentanten des Rechtsstaats auf allen Ebenen dafür arbeiten, dass ein Ehrenamt nicht mit Angst ausgeübt oder gar aus Angst aufgegeben wird. Ebenso müssen wir uns vor unsere hauptamtlichen Einsatzkräfte stellen, wenn diese bedroht werden.

(Josef Oster [CDU/CSU]: Ach! Das ist Ihnen doch einen Satz wert! Erstaunlich!)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Lamya Kaddor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Denn sie und nur sie sind es, die uns allen tagtäglich helfen würden, wenn wir ihre Hilfe benötigten.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)