Rede von Karoline Otte Aktuelle Stunde „Strukturförderung“
Karoline Otte (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Nach der Schule sind die eh alle weg.“ „Nach dem Abschluss bleibe ich doch nicht hier, hier, wo der Bus nur alle zwei Stunden kommt, vielleicht auch nur zweimal am Tag, hier, wo eh nichts los ist, wo die Bürgersteige schon nachmittags hochgeklappt werden.“ Als 14-, 15-, 16-Jährige, da waren wir uns auf der langen Busfahrt in die nächste Stadt zur weiterführenden Schule ziemlich einig: Noch drei, vier Jahre, dann sind wir weg, und wir kommen auf gar keinen Fall wieder. – Viele sind weggegangen, direkt nach dem Schulabschluss. Einige kamen zurück, einige kommen jetzt gerade zurück. Was aber an vielen Stellen bleibt, das ist berechtigter Frust, das ist das Gefühl, irgendwie da zu leben, wo nichts nach vorne geht, wo es nicht vorwärts geht. Dieses Gefühl, das bleibt bei ganz vielen. Vor Ort, da sollen Entscheidungen getroffen werden, aber irgendwie sind gar keine Ressourcen da, um diese Entscheidungen ernsthaft treffen zu können.
Die KfW thematisiert in ihrem jüngsten Kommunalpanel sogenannte vulnerable Kommunen. Der Investitionsstau liegt in den Kommunen insgesamt bei über 165 Milliarden Euro, doch in den vulnerablen Kommunen ist er besonders hoch. Die Realitäten in den Kommunen lauten: Sie driften weiter auseinander. Vulnerable Kommunen sind krisenanfällig. Ihnen fehlen aktuell viele Milliarden Euro, um Infrastruktur zu erhalten und in die Zukunft zu investieren. Sie sind angewiesen auf Fördertöpfe für Investitionen und zur Wahrnehmung ihrer Pflichtaufgaben, auf die Stärkung der Konnexität. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind ein im Grundgesetz festgeschriebenes verfassungsgemäßes Ziel, das insbesondere durch die Anwendung der GRW konkret erreicht werden soll. Die Gemeinschaftsaufgabe ist das strukturpolitische Instrument der Bundesregierung.
Es ist klar: Strukturpolitik muss ganzheitlich passieren. Allein Gelder an Unternehmen auszuzahlen und dann zu hoffen, dass die schon irgendwie günstig investiert werden, geht an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Genau deshalb haben wir im letzten Jahr die Reform der GRW auf den Weg gebracht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Nun wird Geld wesentlich gezielter für das ausgegeben, was unter demokratischer Beteiligung vor Ort entwickelt wird. Die Umsetzung von gemeinschaftlich erdachten Regionalförderkonzepten wird nun mit einem festen Anteil förderfähig. Jeder zehnte Euro der GRW-Mittel kann in Zukunft hierfür ausgegeben werden.
In der Bundesregierung und im BMWK wurde einiges bewegt, um die Strukturförderung neu aufzustellen. Aber damit in Gemeinden die nötigen Ressourcen für eine gute öffentliche Infrastruktur vorhanden sind, braucht es mehr. Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb eine Dynamisierung der GRW-Mittel vereinbart, und in einem gemeinsamen Antrag haben wir uns auf die Stabilisierung der Finanzierung des Städtebaus geeinigt. Das ist knapp einen Monat her. Unsere Haltung als Koalition sollte also klar sein.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Die Aufstellung des Bundeshaushalts 2024 ist ganz offensichtlich ein einzigartiger Vorgang. Dabei wurden jetzt Sparvorschläge gemacht, die eindeutig nicht tragfähig sind. Die Mittel für die GRW, das strukturpolitische Instrument des Bundes, zu halbieren, würde die Möglichkeiten so einschränken, dass viele Bundesländer de facto keine GRW-Beteiligung mehr hätten. Das würde die GRW insgesamt infrage stellen. Das können wir nicht zulassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vor Ort, wo zwei Drittel der öffentlichen Bauinvestitionen stattfinden, brauchen wir die Ressourcen, um in öffentliche Infrastruktur zu investieren. Töpfe wie die GRW, die GAK und die Städtebauförderung sind essenziell für Investitionen vor Ort. Weniger Geld in diesen Töpfen bedeutet in der Realität mehr Schulden. Und dort, wo der Staat seine Verantwortung nicht erfüllen kann, bröckelt die Demokratie.
Die Ungleichheiten in Deutschland sind enorm. In den letzten 20 Jahren sind die Einkommen der reichsten 10 Prozent schneller gestiegen als die Einkommen im Rest. Fiskalische Spielräume und Demokratie lassen sich gemeinsam stärken. Darüber hinaus zeigen diese Verhältnisse klar, dass man Gelder dorthin umverteilen kann, wo sie Menschen wirklich nützen. Mit dem Versprechen von gleichwertigen Lebensverhältnissen im Grundgesetz haben wir uns das Ziel gesetzt, dass niemand wegzieht, weil es vor Ort nicht vorangeht. Wenn wir dieses Versprechen einlösen, dann haben wir viel zu gewinnen: eine Stärkung demokratischer Strukturen und all der Potenziale, die in unseren Kommunen schlummern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Sepp Müller [CDU/CSU]: Gute Rede!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Der nächste Redner ist der Kollege Gerald Ullrich für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)