Rede von Britta Haßelmann Aktuelle Stunde: Wahlrechtsreform

29.01.2020

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit drängt. Das weiß jede und jeder in diesem Haus. Aber der einzige Vorschlag, der dem Bundestag vorliegt, der auch in einer Anhörung diskutiert werden kann, ist der der Fraktionen der FDP, Grünen und Linken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN – Stephan Brandner [AfD]: Falsch!)

Meine Damen und Herren, das ist der einzige Gesetzentwurf, den es gibt,

(Stephan Brandner [AfD]: Das ist eine Lüge, eine glasklare Lüge!)

obwohl die Zeit drängt und obwohl es verantwortungslos wäre, nicht zu handeln. Das mache ich Ihnen von der Koalition – Union und SPD – zum Vorwurf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

Wir diskutieren seit 2013 über eine notwendige Reform des Wahlrechtes. Wir waren auch schon mal weiter als jetzt mit den Vorschlägen aus der Union. Gemeinsame Grundlage, meine Damen und Herren, war immer das personalisierte Verhältniswahlrecht. Wenn man das einfach so laufen lässt, wie es jetzt bei der Union läuft – die CSU erklärt jeden Tag aufs Neue, was sie alles nicht macht, und 46 Abgeordnete, die knapp 7 Prozent der Wählerstimmen erhalten haben, tanzen dem Rest der Union auf der Nase herum –,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

dann blockiert man eine Wahlrechtsreform. Gleichzeitig kommen Leute, die schon 2009 das sogenannte Grabenwahlrecht favorisiert haben, mit dieser alten Klamotte wieder aus dem Saal. Meine Damen und Herren, die Forderung nach Einführung des Grabenwahlrechts wird erhoben, weil man keine guten Zweitstimmenergebnisse mehr erzielt.

(Dr. Florian Toncar [FDP]: Auch keine guten Erststimmenergebnisse!)

Dann tut man so – Michael Grosse-Brömer, für wie blöd halten Sie uns eigentlich? –,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

als wäre das personalisierte Verhältniswahlrecht schon immer so ausgestaltet, dass 299 Abgeordnete direkt gewählt werden und weitere 299 über die Liste kommen.

(Philipp Amthor [CDU/CSU]: So war es jahrelang! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So steht es im Grundgesetz!)

Meine Damen und Herren, so ist es nicht. Personalisiertes Verhältniswahlrecht bedeutet was ganz anderes. 299 direkt gewählte Abgeordnete und 299 Listenabgeordnete, das sieht das Grabenwahlrecht vor. Liebe SPD, wacht auf! Denn ihr werdet nicht mehr gebraucht, wenn sich dieses Wahlrecht durchsetzt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

Dann hat diese Union nämlich die absolute Mehrheit von 335 Stimmen.

(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Oder ihr strengt euch mal an bei den Wahlen!)

Ich glaube mittlerweile, dass man als Union den Laden einfach einmal laufen lässt. Auch vom Vorsitzenden wissen wir nicht, was er will. Das ist bei der SPD im Übrigen genauso. Man spielt einfach auf Zeit, setzt ein bisschen auf Chaos und legt keinen eigenen Vorschlag vor. Meine Damen und Herren, das ist verantwortungslos.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

Dann sind wir immer wieder damit konfrontiert worden: der bessere und der schlechtere Abgeordnete. – Mittlerweile hat man gemerkt, wie es ist; denn Herr Dr. Schäuble als Bundestagspräsident hat sich schützend vor uns alle gestellt und gesagt: Hört mal auf mit dieser Mär. Es gibt nur den oder die Abgeordnete. – Um festzustellen, dass er recht hat, würde ein Blick ins Grundgesetz reichen.

Zu dem von Ihnen viel postulierten direkt gewählten Abgeordneten: Können Sie mir mal sagen, wieso so viele von ihnen in dieser Legislaturperiode trotz Direktwahl fluchtartig ihr Mandat aufgeben haben? In dieser Legislaturperiode sind sieben oder acht Abgeordnete ausgeschieden. Keiner aus ihrem Wahlkreis ist nachgerückt. Sigmar Gabriel, Herr Harbarth, Herr Kelber, Frau Mortler, Frau Reimann, Frau Schüle, Herr Stübgen – alle waren sie direkt gewählt, alle haben sie jetzt einen anderen Job, und für alle gab es keinen Nachrücker aus ihrem Wahlkreis. Mit der letzten Legislaturperiode könnten wir weitermachen. Da waren es über 15 direkt gewählte Abgeordnete,

(Dr. Florian Toncar [FDP]: Frau Schavan, Herr Pofalla, nach wenigen Wochen schon, direkt nach der Wahl!

die was Besseres in ihrem Leben vorhatten, was anderes machten. Da rückten Leute aus anderen Städten nach, von überallher. Das war alles kein Problem. Warum sollte das jetzt plötzlich ein Problem sein, meine Damen und Herren?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der AfD)

Auch die, die über die Liste gewählt sind, machen ihre Arbeit, und zwar gut. Heute ist es längst so, dass jede und jeder von uns Bürgersprechstunden anbietet, Wahlkreisarbeit macht und sich mit Verbänden und Initiativen trifft.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das sehe ich nicht so!)

Also, hören Sie auf, zu behaupten, das sei anders. Das ist eine Mär.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

Wir haben einen guten Vorschlag gemacht, FDP, Linke und Grüne gemeinsam. Er enthält die Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechtes. Er wirkt sich auf alle Parteien gleichermaßen negativ proportional aus. Auch wir verlieren danach Mandate; wir hätten nach diesem Vorschlag nicht – wie heute – 67, sondern 59 Abgeordnete. Es ist ein Vorschlag auf Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechtes. Wir reduzieren die Zahl der Wahlkreise. Wir erhöhen die Gesamtzahl der regulären Sitze moderat – damit federn wir die Härten ab –, und wir machen Schluss mit dem Verrechnungsschritt, der die Länderproporze sichert. Das ist ein guter Vorschlag; der ist fair und gerecht,

(Albrecht Glaser [AfD]: Er macht aber den Bundestag nicht kleiner!)

und er sichert das personalisierte Verhältniswahlrecht.

Meine Damen und Herren, ich stelle fest: Auch seit dem Jahr 2013 – seitdem diskutieren wir darüber – haben wir keinen Gesetzesvorschlag von Ihnen beiden, CDU/CSU und SPD. Sie tragen Verantwortung dafür, dass wir heute an diesem Punkt sind. Ein Spiel auf Zeit ist nicht länger hinnehmbar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Ansgar Heveling.

(Beifall bei der CDU/CSU)