Rede von Sven-Christian Kindler Aktuelle StundeHaltung der Koalition zu Plänen der EU-Kommission, den ESM in einen europäischen Währungsfonds zu überführen
Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute im Deutschen Bundestag über die Zukunft Europas. Wir müssen uns klarmachen: Diese Debatte wird in Europa verfolgt. Deswegen müssen wir auch über die großen Herausforderungen, die großen Chancen für Europa reden. Ich finde, so wie es die Große Koalition, zum Teil auch die FDP gemacht hat, geht es nicht. Wir dürfen nicht kleinmütig und kleingeistig vorgehen, sondern wir müssen mutig und nach vorne diskutieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir müssen uns auch angucken, was passiert 2018, historisch gesehen. Wir feiern dieses Jahr 20 Jahre Euro-Einführung – ein glückliches, ein freudiges Ereignis. Das wird aber überschattet von zehn Jahre Finanzkrise in Europa – eine Banken- und Wirtschaftskrise, die zu massiven politischen und sozialen Verwerfungen in ganz Europa geführt hat. Das haben Jean-Claude Juncker und Emmanuel Macron verstanden. Sie haben Vorschläge vorgelegt. Europa, Macron, Juncker warten seit sieben Monaten, seit September 2017, seit der Bundestagswahl, darauf, dass Deutschland darauf endlich eine Antwort gibt.
(Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Wäre Jamaika gekommen, wären wir schon schneller gewesen!)
Bisher gibt es keine Antwort. Es gibt nur „Nein, nein, nein“ von der Bundesregierung. Ich finde das wirklich peinlich und verantwortungslos.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir müssen jetzt doch ein historisches Zeitfenster nutzen; denn es schließt sich schnell, weil im Herbst der Europawahlkampf beginnt. Wir müssen berücksichtigen, dass der Euro nicht krisenfest ist, dass bestimmte Defizite behoben werden müssen und dass Deutschland deswegen jetzt Verantwortung übernehmen muss.
Gerade der EWF, der Europäische Währungsfonds, könnte dabei eine wichtige Rolle spielen. Es gäbe andere wichtige Reaktionen darauf, zum Beispiel, dass wir mehr Investitionen in Europa vornehmen und dass wir dafür neue Finanzmittel bereitstellen. Die Vollendung der Bankenunion mit einem Backstop ist wichtig.
Es gibt viele Fragen, auf die Europa eine Antwort braucht und auf die auch Deutschland eine Antwort geben muss. Wenn Deutschland diese Antwort nicht gibt, wenn sie sie weiter verschleppt, wenn Merkel sie weiter verzögert und diese historische Chance verstreichen lässt, dann ist das wirklich verantwortungslos von dieser Bundesregierung. Deutschland wird so zum Systemrisiko für ganz Europa.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zum Europäischen Währungsfonds. Ich glaube, wir müssen hier zwischen zwei Konzepten unterscheiden. Es gibt den Vorschlag der Kommission, innerhalb der Gemeinschaft neue Institutionen, kontrolliert vom Europäischen Parlament, angebunden an die Europäische Kommission, zu schaffen. Wir sagen klar: Das kann man sehr gut mit den Rechten des Deutschen Bundestages vereinbaren, für die wir einstehen. Das kann man sehr gut auch mit einem Vetorecht vereinbaren, so wie es das Bundesverfassungsgericht vorschlägt. Ein solches Recht muss man ausgestalten; aber es ist möglich.
Was die Unionsfraktion jetzt macht und was auch die FDP gemacht hat, ist, hier einen Etikettenschwindel vorzunehmen. Sie wollen de facto eine intergouvernementale Aktion und einen ganz anderen Fonds, keinen von Gemeinschaftsinstitutionen, weil Sie denen nicht vertrauen. Damit wollen Sie die EU-Kommission außen vor lassen und schwächen, und gleichzeitig wollen Sie die Haushalte der Staaten disziplinieren, kontrollieren, und Sie wollen den Staaten vorschreiben, welche Haushaltspolitik sie betreiben sollen. Sie wollen also die gescheiterte Kaputtsparpolitik in Europa mit einem anderen Europäischen Währungsfonds fortsetzen. Das nenne ich einen Etikettenschwindel. Das wäre eine „Troika forever“, und das würde Europa nicht zusammenbringen; das würde Europa massiv spalten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich frage mich: Wo ist eigentlich die SPD in dieser Debatte? Die SPD hat bei ihrer Basis massiv für den Koalitionsvertrag mit dem Europakapitel geworben. Sonja Steffen hat es gesagt: Das Europakapitel ist das erste Kapitel im Koalitionsvertrag: „Ein neuer Aufbruch für Europa“. Bisher sehen wir eine neue Blockade für Europa durch diese Bundesregierung.
Die Unionsfraktion rennt Sturm gegen das, was die Bundesregierung eigentlich machen müsste, was zum Teil auch im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist. Die SPD hat jetzt das Finanzministerium, das dafür zuständig ist. Ich frage mich: Wo ist in dieser Debatte eigentlich der SPD-Bundesfinanzminister? Wir hören nichts von Olaf Scholz dazu. Es gibt ein lautes Schweigen.
(Bettina Hagedorn, Parl. Staatssekretärin: Er ist in Washington!)
– Ich rede nicht über diese Debatte hier im Bundestag; ich rede über die gesamte mediale Debatte. Dazu hören wir nichts von Olaf Scholz. Er lässt die Union einfach laufen und gegen Europa Stimmung machen.
(Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Er macht Stimmung für Europa!)
Ich finde das wirklich erbärmlich. Ich finde, die SPD und der SPD-Bundesfinanzminister müssen endlich handeln und Position beziehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich glaube, Olaf Scholz muss sich nachher auch entscheiden, ob er das umsetzen will, was Martin Schulz in den Koalitionsverhandlungen gegen die Union in den Koalitionsvertrag hineingebracht hat, oder ob er in der Tradition seines Vorgängers Wolfgang Schäuble bleibt. Die CDU hat sich bitter beschwert, dass sie das Finanzministerium an die SPD abgeben musste. Angesichts der letzten Wochen und des Agierens von Olaf Scholz am Anfang bin ich mir nicht sicher, bei welcher Partei das Bundesfinanzministerium eigentlich gerade ist.
(Otto Fricke [FDP]: Nicht bei den Grünen!)
– Bei den Grünen ist es nicht. Aber ob es bei der SPD ist, Kollege Fricke, oder ob es bei der CDU ist, das – so muss man fairerweise sagen – wissen wir nicht genau.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Jetzt ist die Zeit, Europa groß zu denken, nicht weiter zu blockieren, nicht kleinmütig, nicht kleingeistig zu diskutieren, nicht immer nur etwas abzuwehren, sondern eigene Vorschläge auf den Tisch zu legen, um Europa sozialer, demokratischer, auch krisenfester zu machen, diese historische Chance zu nutzen und auch diese historische Verantwortung wahrzunehmen, die wir hier im Deutschen Bundestag haben. Das müssen wir machen. Wir müssen jetzt zusammen Vorschläge vorlegen, wie man mit Macron und Juncker Europa weiterentwickeln kann, statt Europa weiter zu blockieren.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)