Rede von Lamya Kaddor Antisemitismus

Lamya Kaddor
09.11.2022

Lamya Kaddor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Sehr geehrte Damen und Herren! Der 9. November ist für uns Deutsche ein sehr wichtiges Datum. Ich bin daher sehr froh, dass wir heute diese Debatte zum Antisemitismus hier im Plenum gemeinsam führen; denn wir erinnern an das antisemitische Grauen in unserem Land.

Vor 84 Jahren wurden über 1 200 Synagogen niedergebrannt, unzählige Wohnungen verwüstet und etwa 7 500 jüdische Geschäfte zerstört. Jüdinnen und Juden wurden erschlagen, niedergestochen oder zu Tode geprügelt. Kurz darauf wurden im ganzen Deutschen Reich über 30 000 Männer verhaftet und in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Dachau und Buchenwald deportiert. Alles Geschichte? Mitnichten. Auch 84 Jahre später müssen wir ausgerechnet in Deutschland – es ist absolut beschämend – noch immer über Hass und Hetze gegen Jüdinnen und Juden sprechen.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen von einer Begegnung berichten. Meine muslimischen Kinder besuchen beide den jüdischen Kindergarten in Duisburg. Dieser liegt aus Sicherheitsgründen am Ende eines Innenhofs, mit einer Pforte aus Panzerglas, hinter der ein Sicherheitsmann sitzt, der den Sicherheitszaun samt Grundstück bewacht. Ich holte eines unserer Kinder an einem Nachmittag ab und ging mit ihm Hand in Hand aus dem Kindergarten. Plötzlich rief ein älterer Mann von seinem Balkon: Euch hätte man alle vergasen müssen! – Ich legte mich lautstark mit ihm an und versuchte, meinem erschrockenen Kind zu erklären, dass der Herr voller Abneigung wäre, es aber nicht an uns liege. Ich gebe zu, dass ich nach dem Schlagabtausch still, aber aufgewühlt dachte: Was hätte er gesagt, wenn er gewusst hätte, dass ich Muslimin und nicht Jüdin bin? Wut und Frustration erfüllten mich. Diese Szene, die ich nicht vergessen kann, zeigt, dass Antisemitismus keine Jüdinnen und Juden benötigt, um zu funktionieren. Es kann jede und jeden treffen.

Jedes Mal, wenn eine Jüdin oder ein Jude angegriffen wird, ist es, als würden wir selbst angegriffen. So sehe ich es. Menschenfeindlichkeit macht nämlich vor niemandem Halt. Am Ende trifft es die Demokratie als Ganzes. Es ist daher inakzeptabel, dass Jüdinnen und Juden im Jahr 2022 in Deutschland Angst haben müssen, in der Öffentlichkeit religiöse Symbole zu tragen, die Schule zu besuchen oder in eine jüdische Kultureinrichtung zu gehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Insbesondere seit Beginn der Coronapandemie verzeichnen wir eine Ausbreitung des Antisemitismus. Von Impfgegnerinnen und Impfgegnern, sogenannten Spaziergängern und Spaziergängerinnen, Querdenkern und Querdenkerinnen, flankiert von den altbekannten rechtsextremistischen, islamistischen und auch linksextremistischen Strömungen mit ihren antisemitischen Denkmustern und Verschwörungsideologien, wird der Hass in die Mitte der Gesellschaft gespült. Die steigenden Zahlen zur Politisch motivierten Kriminalität und die Hasskriminalität gegen Jüdinnen und Juden, die auch in der digitalen Realität tobt, unterstreichen den Handlungsbedarf. Bekämpfung von Antisemitismus ist Kernaufgabe einer Bundesregierung, die ihre Bürgerinnen und Bürger schützt, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Resilienz der Demokratie stärkt und Sicherheit gewährleistet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir verzeichnen zwar Erfolge bei der Sichtbarmachung jüdischen Lebens und beim Empowerment jüdischer Gemeinden in Deutschland. Das heißt aber nicht, dass nicht noch viel zu tun wäre. Um jüdisches Leben weiter zu stärken, ist die Errichtung einer Stelle zur Erforschung jüdischer Lebensrealitäten ein wichtiger Schritt. Daher werden wir eine nationale Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus vorlegen, deren Notwendigkeit auch Dr. Klein heute im Innenausschuss betont hat.

Bei der Prävention müssen wir schon früh anfangen. Lehrinhalte und Exkursionen mit sehr guter Vor- und Nachbereitung müssen aus meiner Sicht verpflichtend werden. Pädagoginnen und Pädagogen, Erzieherinnen und Erzieher müssen besser geschult werden. Wer Diskriminierung in unserer Gesellschaft verkennt, wer bei Protesten jeglicher Couleur mitmarschiert und dabei antisemitische Bekundungen duldet, ist eine Gefahr für unser Land. Dieser Gefahr müssen und werden sich die demokratischen Fraktionen in diesem Haus gemeinsam entgegenstellen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Frau Kollegin Kaddor. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Beatrix von Storch, AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)