Rede von Claudia Roth Antisemitismus

Foto von Claudia Roth MdB
09.11.2022

Claudia Roth, Staatsministerin beim Bundeskanzler:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Ron Prosor! Charlotte Knobloch, deren 90. Geburtstag wir vor wenigen Tagen gefeiert haben, hat nie vergessen, was sie am 9. November 1938 in München erleben musste. Sie hat es nie vergessen können! Niemand könnte das. Wer erlebt, dass in wenigen Tagen alles, was dem eigenen Leben Gewissheit und Vertrauen gab, zerstört wird, der wird das sein Leben lang nie vergessen. „Wer den November 1938 erlebt hat, für den kann ‚Nie wiederʼ niemals nur ein leeres Wort bleiben“, sagt Charlotte Knobloch. Kein leeres Wort – nicht im Land der Täter, nicht in dem Land, das Charlotte Knobloch, Fritz Bauer und mit ihnen viele Jüdinnen und Juden trotz der Shoah, trotz der unermesslichen Schuld dieses Landes mit aufgebaut haben.

Wir sind heute versammelt, um voll Scham zu bekennen: Jüdisches Leben ist in Deutschland noch immer bedroht. Antisemitismus existiert noch immer in diesem Land. – Deswegen heißt Erinnern an den 9. November auch immer Kämpfen für die Demokratie und gegen Antisemitismus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Diese Erinnerung ist keine Pflicht und keine Bußübung, keine – ich zitiere – „dämliche Bewältigungspolitik“, wie sie Björn Höcke für die AfD bezeichnet. Diese Erinnerung ist ein Kampf auch gegen die Feinde der Demokratie. Die Erinnerung an den 9. November, an die Opfer des Terrors, an das, was diesem Tag vorausging, und an die Konsequenzen, die dieser Zivilisationsbruch hatte, diese Erinnerung ist ein Dienst an uns selber, an uns allen.

Der 9. November, sagt Charlotte Knobloch, war das Tor nach Auschwitz. Es ist die Wahrheit, und diese Wahrheit ist uns zuzumuten. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht vergessen dürfen, dass das Gift des Hasses langsam wirkte und wirkt, dass auf Verleumdung Diskriminierung folgte, auf Ausgrenzung Verfolgung und am Ende Zerstörung und Vernichtung standen. Hass, Missgunst und Ausgrenzung bedeuten Verrat an der Demokratie.

Über 3 000 Fälle antisemitischer Straftaten, die das Bundesinnenministerium im vergangenen Jahr feststellte, sind über 3 000 Fälle zu viel. Die Vielzahl an judenfeindlichen Straftaten und ja, auch der schlimme Vorfall bei der Documenta sind nicht nur ein Angriff auf jüdisches Leben in unserem Land, sondern auch ein Angriff auf unser Zusammenleben, auf das „Wir alle“, und sie sind deswegen eine riesengroße Herausforderung für die Politik in unserem Land.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Land hat am 9. November 1938 seine Würde verloren. Es hat Jahre und Jahrzehnte gedauert, um wieder aufgenommen zu werden in den Kreis der zivilisierten Länder. Ganz zuallererst verdanken wir dies Israel und unseren jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen. Die Freundschaft mit Israel, die Zusammenarbeit und der Kampf gegen Antisemitismus sind unverrückbarer Teil der deutschen Staatsräson. Und sie sind konstitutiv für unsere Demokratie und für die Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es war der Kampf gegen das Vergessen, der dieses Land, der unsere Gesellschaft verfasst hat. Ich glaube, man kann sagen: So sind wir zu einer freien und demokratischen Gesellschaft geworden. Und wir sind nicht am Ende der Geschichte angekommen. Unser Leben in Freiheit und Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Wer sich erinnern kann, weiß das, und wer daran erinnert, weiß das auch. Wir werden unsere Freiheit und Demokratie verteidigen müssen, sagt Charlotte Knobloch. Recht hat sie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Als Nächstes erhält das Wort der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)