Rede von Marlene Schönberger Antisemitismus
Marlene Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Ehrengäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Von den 200 000 Jüdinnen und Juden in Deutschland leben circa 70 000 jüdische Seniorinnen und Senioren unter der Armutsgrenze, darunter viele Shoah-Überlebende. Das ist ein krasses Versagen der Politik.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Wenn wir jetzt endlich einen Härtefallfonds schaffen, dann ist das ein Anfang; aber es kommt spät. Jüdische Organisationen kritisieren seit Jahrzehnten, dass der Armut von Jüdinnen und Juden nicht begegnet wird. Das ist nur ein Beispiel für die Ignoranz, die jüdische Stimmen in diesem Land erfahren.
Viele Jüdinnen und Juden haben Bedenken, Kritik zu äußern oder sogar Selbstverständliches einzufordern, weil sie Angst haben, dass die Politik sie im Stich lässt. So auch, wenn es um Antisemitismus geht: Viel zu selten spielt das, was Betroffene berichten, dabei eine Rolle. Mir ist wichtig, dass von der heutigen Debatte ausgeht: Wir haben diesen Missstand erkannt, und wir wollen daran etwas ändern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Dafür müssen wir bei uns selbst anfangen. Wir müssen uns fragen: Wie können wir der Kritik und den Anliegen von Jüdinnen und Juden mehr Gehör verschaffen? Wie können wir politische Räume zu Safer Spaces auch für Jüdinnen und Juden machen? Wie schaffen wir es, dass wirklich immer klare Kante gegen Antisemitismus gezeigt wird, auch dann, wenn er aus dem eigenen politischen Lager kommt?
Eine Umfrage des American Jewish Committee zeigt, dass die Anhänger/-innen demokratischer Parteien keineswegs immun gegen Antisemitismus sind. Unter Grünenwählerinnen und ‑wählern sind es 24 Prozent und unter Unionsanhängerinnen und ‑anhängern 32 Prozent, die der Meinung sind, dass „die Juden ihren Status als Opfer der Shoah zu ihrem Vorteil nutzen“ würden. Bei der SPD, der FDP und der Linken sind die Zustimmungswerte sogar noch höher. Mit Abstand am höchsten sind sie bei den Anhängerinnen und Anhängern der AfD. Studien zeigen längst, dass der Antisemitismus zum programmatischen Kern dieser radikal rechten Partei gehört.
(Beatrix von Storch [AfD]: Hei, hei, hei, jetzt ist aber was los!)
Ihre Inszenierung als projüdisch ist heuchlerisch und schäbig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine oberflächlich anti-antisemitische Haltung reicht nicht aus; wir brauchen mehr, nämlich eine dauerhafte Auseinandersetzung und eine konsequente Positionierung. An Gedenktagen sagen wir ritualisiert „Nie wieder!“, und überall höre ich, dass kein Platz für Antisemitismus sei. Doch seien wir ehrlich: Leider gehörte der Antisemitismus immer zu Deutschland.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So ist es!)
Wenn es bei der Bekämpfung des Antisemitismus bei Phrasen bleibt, dann ist das ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Dem Antisemitismus konsequent zu begegnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist mühsam, das ist schmerzhaft, das ist frustrierend, und es ist ein Kampf, bei dem wir Jüdinnen und Juden viel zu lange alleingelassen haben. Wir müssen jeden Tag daran arbeiten, das zu ändern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Vizepräsident Wolfgang Kubicki:
Vielen Dank, Frau Kollegin Schönberger. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Professor Dr. Lars Castellucci, SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)