Marlene Schönberger MdB
17.11.2023

Marlene Schönberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Bereits im Jahr 1944 hat der Psychoanalytiker Ernst Simmel geschrieben: Antisemitinnen und Antisemiten, das sind – Zitat – „relativ normale, gut angepaßte Persönlichkeit[en]“. Der Antisemit „geht seinen Geschäften nach, sorgt für seine Familie usw. Doch er haßt die Juden, und es tut ihm gut zu wissen, daß viele seiner Freunde seine Gefühle teilen.“ Zitat Ende. Diese Worte sind knapp 80 Jahre alt. Und doch herrscht bei manchen bis heute der Glaube vor, dass Antisemitismus nur bei Bestien, Monstern, den Extremen zu finden sei. Genau das ist es, was unseren Kampf gegen Antisemitismus bremst.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, Ihr Entwurf zum Strafgesetzbuch enthält einige wichtige Punkte. Aber dass Sie heute wieder einmal die Chance nutzen, den Kampf gegen Antisemitismus für Ihre migrationsfeindliche Agenda zu instrumentalisieren, während Sie den Antisemitismus der Mitte verdrängen, das ist ernüchternd.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Antisemitismus lässt sich aus Deutschland nicht abschieben.

Einige haben es noch immer nicht verstanden: Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir sprechen von 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung, die latent oder offen antisemitische Einstellungen haben.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Reden Sie mal mit dem Vizekanzler!)

Dass Rechte, Progressive und Linke genauso wie lslamistinnen und Islamisten ihren Antisemitismus gerade so offen zur Schau stellen können, liegt daran, dass dieser in der deutschen Bevölkerung so weit verbreitet ist.

Die antisemitische Gewalt, die wir heute erleben, ist deshalb möglich, weil radikale Antisemitinnen und Antisemiten glauben, für eine schweigende Mehrheit zu sprechen. Und es stimmt: Die Mehrheit schweigt – aber in der Regel nicht, weil sie antisemitisch ist, sondern, weil sie kaum Wissen über Antisemitismus hat, ihn schlichtweg nicht erkennt. Und deshalb bleiben Jüdinnen und Juden bei antisemitischen Vorfällen oft allein.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wie viele von uns sind aufgestanden, als es zu Antisemitismus kam? Und ging es dabei wirklich um den Kampf gegen Antisemitismus oder nur darum, dass es politisch opportun war? Wie viele von uns können behaupten, Zivilcourage gezeigt zu haben? Fragt man die Betroffenen von Antisemitismus, erzählen sie, dass meistens niemand einschreitet. Das ist ein gefährlicher Zustand, den wir uns keinen Tag mehr länger leisten können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Linda Teuteberg [FDP])

Der Bedrohung, die von radikalen Antisemiten ausgeht, werden wir mit der vollen Härte des Rechtsstaates begegnen.

(Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

Und ja, hier gilt es, Lücken im Strafrecht zu schließen. Aber der Gefahr, die von ganz normalen Antisemitinnen und Antisemiten, den Angepassten der Mitte, ausgeht, können wir durch Gesetze und Strafverfolgung nicht begegnen. Also Schluss mit Instrumentalisierung und dem Wegschieben von Verantwortung!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Detlef Seif [CDU/CSU]: Beides gehört zusammen!)

Hier braucht es andere Mittel,

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Ach! Sie lenken ab! Das ist ja erstaunlich!)

und diese Mittel liegen seit Jahren auf dem Tisch: zum Beispiel Ausbau des Monitorings für Antisemitismus auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze, Ausfinanzierung der Betreuung von Betroffenen antisemitischer Gewalt, flächendeckende antisemitismus- und rassismuskritische Bildungsarbeit für alle Menschen.

(Stephan Brandner [AfD]: Das klappt doch nicht! Es kommen Milliarden für Milliarden rein!)

Und ich bin froh, dass der Haushaltsausschuss gestern beschlossen hat, dass wir all diese Dinge stärken.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, erkennen wir unser bisheriges Versagen beim Kampf gegen Antisemitismus an. Stellen wir uns der Verantwortung.

(Zuruf des Abg. Martin Hess [AfD])

Tun wir endlich was gegen jede Art des Antisemitismus, auch gegen den, der angepasst und unscheinbar daherkommt.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Der nächste Redner ist Ingmar Jung für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)