Rede von Manuel Sarrazin Arbeitsprogramm der EU-Kommission 2018
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Eine Analyse des derzeitigen Stands der Europäischen Union ist nicht so leicht. Wir sehen gute Zahlen in den meisten Staaten der Euro-Zone wie auch der Europäischen Union. Es gibt wieder Wachstum. Die Arbeitslosigkeit geht in den meisten Bereichen zurück, langsam sogar bei den Jugendlichen.
Wir haben auch die Situation, dass die politischen Spannungen der letzten Jahre offensichtlich überwunden sind. Gestern war der neue Vorsitzende der Euro-Gruppe zu Gast. Es gab einen kleinen Empfang im Bundesfinanzministerium. Herr Altmaier hat darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung Herrn Centeno, den Finanzminister Portugals, dessen Regierung von linksradikalen Kräften in Portugal gestützt wird, bei seiner Kandidatur unterstützt hat. Das ist doch mal etwas; das ist doch bemerkenswert. Herr Ulrich hätte diese neue Einigkeit ruhig ein wenig abbilden können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Man muss sich in den Reden ja nicht immer nur gegenseitig eins auf die Nuss geben; so etwas kann man doch auch einmal würdigen. Das Jahr 2018 ist nicht das Jahr, in dem man Kulturkämpfe gegeneinander führen muss. Eigentlich sind wir, was Europa angeht, sogar näher an der Linkspartei als an der AfD. Es wäre schön, wenn ihr es irgendwann einmal in einer Europa-Debatte schaffen würdet, mich zum Applaudieren zu bekommen. Darüber würde ich mich richtig freuen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Was Herr Centeno gesagt hat, ist hinsichtlich der Analyse relativ klar: Wir dürfen uns von den guten Zahlen nicht in die Irre führen lassen. Denn aufgrund der Zyklen in den wirtschaftlichen Entwicklungen werden wieder neue Krisen auf uns zukommen. Außerdem dürfen wir uns nicht einbilden, dass wir jetzt schon krisenfest wären. Gerade heute sind die Zahlen veröffentlicht worden: Über 900 Milliarden Euro an faulen Krediten liegen noch in Europas Banken. Deshalb ist die Frage, wie man die Bankenunion fortsetzt, eine ganz entscheidende.
Ich höre immer und lese auch im Sondierungspapier – der Ton des Sondierungspapiers gefällt mir –, wir brauchen endlich Kerneuropa, um voranzugehen, und wollen Herrn Macron die Hand reichen. Aber das Erste, was hier dann kommt, ist: Die Rechtsgrundlage, um konkret beim ESM mehr zu machen und ihn zu europäisieren, ist uns nicht recht; Artikel 352 AEUV ist dafür nicht geeignet. – Meiner Ansicht nach ist das eine falsche Argumentation. Da haben wir einen ersten Punkt, an dem man vorangehen will, und wieder sagt diese Bundesregierung: Nein, mit uns nicht. – Das ist die Realität.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Schau dir mal die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an! Ein Blick nach Karlsruhe tut gut!)
Ihr versteckt euch immer dahinter, dass die Osteuropäer und die Südeuropäer usw. nicht wollen. Wenn ihr bei dem wichtigsten Punkt liefern sollt, nämlich die Bankenunion zu Ende zu bringen, dann ist an der Stelle nichts zu gewinnen. Da macht ihr meiner Ansicht nach einen großen Fehler.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zu deiner Argumentation, Gunther. Das Ziel ist klar im Vertrag verankert. Die Befugnis ist offensichtlich nicht im Vertrag verankert, weil Artikel 136 Absatz 3 AEUV den ESM ganz klar zum Instrument der Mitgliedstaaten macht. An dieser Stelle eine Vertragsänderung zu fordern, ist der älteste Trick der Bundesregierung, um bei Sachen, die man eigentlich nicht will, letztlich die Ausrede zu haben, dass man selber gar nicht dafür sein konnte, weil andere ein Veto eingelegt haben. Das werden wir euch nicht durchgehen lassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ein anderer Punkt, den ich ansprechen muss: Wir werden in diesem Jahr die entscheidende Brexit-Phase verhandeln. Bisher bin ich mit der Position der Bundesregierung ganz zufrieden, weil ich das Gefühl habe, dass sich Deutschland an dieser Stelle wirklich um den Zusammenhalt der Europäischen Union verdient macht. Das gilt auch für die Formulierung zum mehrjährigen Finanzrahmen im Sondierungspapier. Ich halte diese für sehr klug. Ich bin wahrscheinlich der größte Nerd, was Europageld angeht – in meinem Laden zumindest.
(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! – Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es sagen immer alle: Manuel, das ist doch nicht alles. – Dann sage ich immer: Doch, doch, das ist ganz wichtig; man kann es auch größer verkaufen. – Aber eines muss ich euch ehrlich sagen: Wer in Deutschland den Klimaschutz rückabwickelt, wer die deutsche Energiepolitik weiter für nationale Kohlepropaganda benutzt, wer beim gemeinsamen europäischen Asylsystem einerseits hintenherum die großen rechten Unternehmungen durchsetzt – siehe Selbsteintrittsrecht –, zum anderen bei der Verteilungsquote immer nur auf die Osteuropäer zeigt, der schafft trotzdem noch lange keine proeuropäische Koalition, nur weil er bereit ist, mal 5 Milliarden oder 10 Milliarden Euro mehr in den EU-Haushalt zu schieben. Das muss ich euch leider ehrlich sagen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das andere, was ich sagen muss, ist: Wir werden in den Brexit-Verhandlungen sehen, was eine Demokratie ausmacht, nämlich Verhandlungen zwischen Mitgliedstaaten, die in einstimmigem Beschluss die Europäische Kommission beauftragen, die als Sachwalter des gemeinsamen europäischen Interesses tagt, die übrigens sehr transparent Dokumente online zur Verfügung stellt und über diese Verhandlungen tatsächlich Rechenschaft ablegt. Ich persönlich glaube, dass diese europäische Föderation viel weniger mit einer Diktatur gemein hat als das Regime eines Herrn Assad, das der Redner von der AfD bei der Einbringung eines Antrags vor wenigen Wochen in diesem Parlament noch als perfektes System, in dem alles in Ordnung sei, gefeiert hat. Wenn Sie von einer Diktatur in Europa reden, dann sollten Sie erst einmal Ihr Verhältnis zu Russland und zum Regime von Assad klären. Sonst brauchen Sie uns hier gar nichts darüber zu sagen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Denn, meine Damen und Herren, die Legitimitätskette, auf der die Entscheidungen der europäischen Institutionen beruhen, ruht – und das bleibt so – nach Verträgen und nach dem deutschen Grundgesetz auf zwei Pfeilern. Der eine ist die direkte Demokratie durch die Wahlen zum Europäischen Parlament. Wer findet, die Europäische Union sei ein Superstaat, der dürfte meiner Ansicht nach gar nicht für das Europäische Parlament kandidieren, weil er sich damit nur zu dessen Anwalt macht. Die Europawahlen sind Ausdruck dieser Legitimitätsfunktion.
Die andere Legitimitätsfunktion haben wir, indem wir die Entscheidungen der Bundesregierung im europäischen Ministerrat und im Europäischen Rat hier so diskutieren, dass die deutschen Bürgerinnen und Bürger sich eine Meinung darüber bilden können, die zur Wahlentscheidung bei den Bundestagswahlen beiträgt. Dafür ist es notwendig, dass man bei der Sache bleibt und dass man eine ehrliche Debatte auch über das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission führt. Das haben wir hier zum Teil begonnen, und das werden wir im Ausschuss fortführen.
Danke sehr.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)