Rede von Beate Müller-Gemmeke Arbeitszeiterfassung

Foto von Beate Müller-Gemmeke MdB
26.05.2023

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitszeit ist ja inzwischen ein Lieblingsthema der Union – erst im Ausschuss, jetzt hier im Plenum –, aber erst jetzt, also nach und nicht während Ihrer Regierungszeit. Das Anliegen der Union ist auch klar: Es soll bürokratiearm und flexibel zugehen in unserer Arbeitswelt, und flexibel sollen nicht die Unternehmen sein, sondern vor allem die Beschäftigten, und das meint vor allem – das wurde ja gesagt – eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 anstelle von 8 Stunden am Tag. Herr Gröhe, ob maßvoll oder nicht: Das ist ein Angriff auf das Arbeitszeitgesetz, und das lehnen wir ab.

Das Thema ist viel größer. Wir wollen mehr Zeitsouveränität. Wir wollen, dass Arbeitszeit gut ins Leben passt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Ach! Durch Vorgaben! – Marc Biadacz [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Mit dem Thema Dokumentation wird sich nachher mein Kollege Frank Bsirske befassen. Ich bleibe beim Thema Flexibilität. Da geht es uns aus grüner Sicht um drei Aspekte.

Erstens. Das Arbeitszeitgesetz ist Arbeits- und Gesundheitsschutz. Wenn Beschäftigte lange arbeiten und immer wieder Überstunden machen, wenn sie in ihrer Freizeit ständig erreichbar sein sollen, wenn sich Beschäftigte ständig überfordert oder gestresst fühlen, dann führt das zu gesundheitlichen Problemen. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Und doch möchte die Union jetzt die Flexibilitätsanforderungen weiter erhöhen. Das widerspricht eindeutig arbeitswissenschaftlichen Empfehlungen. Das sollten Sie als Union endlich mal zur Kenntnis nehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens. Die Arbeitszeit muss besser ins Leben der Menschen passen und nicht umgekehrt. Dabei geht es ganz grundsätzlich um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern, aber auch von jungen und älteren Menschen am Arbeitsleben. Es geht um Kindererziehung, um Sorgearbeit, um ehrenamtliches Engagement, um Möglichkeiten zur Weiterbildung und Qualifizierung. Wir brauchen also neue, andere Arbeitszeitmodelle, die zu den Beschäftigten passen. Das bedeutet eben nicht, dass man einfach nur die tägliche Arbeitszeit nicht mehr begrenzt, wie die Union das möchte; auch bei neuen Arbeitszeitmodellen muss der Schutz der Gesundheit im Mittelpunkt stehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dazu passt auch, dass viele Beschäftigte sich kürzere Arbeitszeiten wünschen. 81 Prozent der Vollzeitbeschäftigten hätten beispielsweise gerne eine Viertagewoche. Eine aktuelle Studie aus Großbritannien zeigt, wie das gehen kann. Die Beschäftigten dort haben durch die Viertagewoche weniger Stress, es geht ihnen besser. Aber vor allem profitieren auch die Unternehmen; denn die Krankentage haben sich um 65 Prozent reduziert.

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Sie wollen also britisches Arbeitsrecht!)

Und der Clou: Trotz vollem Lohnausgleich sind die Erlöse der Unternehmen nicht nur konstant geblieben, sondern im Durchschnitt sogar um 1,4 Prozent gestiegen. Das sind soziale Innovationen bei der Arbeitszeit, die beiden Seiten nutzen: den Unternehmen und den Beschäftigten. Auch das sollte Ihnen von der Union zu denken geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Beim dritten Aspekt geht es um die Frauen und um den Arbeits- und Fachkräftemangel. Hier verliert die Union zunehmend den Blick für die Lebensrealität der Menschen, wenn etwa Kollege Linnemann die Arbeit in Teilzeit kritisiert. Es stimmt: Rund die Hälfte der Frauen arbeitet in Teilzeit, im Durchschnitt 21,5 Stunden. Dabei ist klar: Ohne die Arbeit von Frauen ist der Fachkräftemangel nicht zu bewältigen. Wenn wir aber wollen, dass Frauen mehr arbeiten, dann müssen dafür auch die Bedingungen stimmen.

Zentral ist beispielsweise, dass die Beschäftigten mehr Einfluss auf die Gestaltung ihrer Arbeitszeit bekommen,

(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Das schlagen wir vor!)

und zwar ganz konkret auf Dauer, Lage und Ort der Arbeitszeit. Frauen brauchen mehr Zeitsouveränität, sie wollen nicht in Teilzeit arbeiten, sondern sie wollen Arbeitszeiten, die tatsächlich in ihr Leben passen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Susanne Ferschl [DIE LINKE])

Manchmal geht es eben auch um kürzere Arbeitszeiten. Die AWO Augsburg ist da ein gutes Beispiel. Dort wird ab dem 1. September in den Pflegeeinrichtungen die 35-Stunden-Woche eingeführt, und zwar bei vollem Lohnausgleich. So schafft die AWO für ihre Beschäftigten attraktive Arbeitszeiten. Die AWO wird so ihre Fachkräfte in der Pflege besser halten können als andere, und – ganz wichtig –: Unterm Strich werden so mehr Frauen arbeiten, und mehr Frauen werden länger arbeiten. Manchmal ist weniger einfach mehr, und genau so muss es sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Verhältnis zwischen Arbeitszeit und freier Zeit treibt viele Menschen um, nicht nur junge, sondern eben auch ältere Beschäftigte, weil sie gesund bis zur Rente kommen wollen. Dabei geht es um die Zeit, in der die Menschen sich erholen und auftanken können. Es geht um Zeit für ihre Kinder, Freunde, für ihre alten Eltern. Das alles macht ein gutes Leben aus.

Es geht um echte Zeitsouveränität für die Beschäftigten, und wie diese Zeitsouveränität in die Unternehmen passt – das sind die Experimentierräume, die wir brauchen und die unsere Arbeitswelt tatsächlich voranbringen. Denn Arbeitszeit ist Lebenszeit.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke Susanne Ferschl.

(Beifall bei der LINKEN)