Rede von Dr. Anja Reinalter Berufliche Bildung

23.06.2022

Dr. Anja Reinalter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Und vor allem heute: Liebe Azubis! Jetzt reden wir heute doch tatsächlich zum zweiten Mal über berufliche Bildung. Das ist super; denn berufliche Bildung ist ein sehr wichtiger Schlüssel, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Von mir aus können wir das jetzt jede Woche machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Denn die Zahlen im Berufsbildungsbericht rufen uns ganz klar zum Handeln auf: 2,3 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren standen 2021 ohne Bildungsabschluss da – 2,3 Millionen, das sind 15,5 Prozent der 20‑ bis 34‑Jährigen in Deutschland! Diese jungen Leute, egal ob im Süden, im Norden, im Osten oder im Westen, haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Sie werden weniger verdienen und ein viel, viel höheres Risiko für Langzeitarbeitslosigkeit und Altersarmut haben. Es darf nicht sein, dass junge Menschen ohne Schulabschluss dastehen und keinen Ausbildungsplatz finden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Wir dürfen uns das als Gesellschaft nicht leisten. Die Bekämpfung des Fachkräftemangels ist in unser aller Interesse; wir brauchen diese jungen Leute.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wenn ich mir jetzt diese beiden Anträge anschaue, dann stelle ich fest, dass wir in der Problembeschreibung gar nicht weit auseinanderliegen. Im Antrag der Linken steht vieles, was wir schon längst im Koalitionsvertrag beschlossen haben.

(Sören Pellmann [DIE LINKE]: Umsetzen!)

Im Antrag der Union steht vieles zur Digitalisierung als Lösung des Fachkräftemangels. Das ist gut; aber als Berufsschullehrerin kann ich Ihnen versichern, dass in den letzten 16 Jahren viel zu wenig in die digitale Infrastruktur investiert wurde, um Ihre Forderungen durchzusetzen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In meiner ehemaligen Schule in Biberach waren wir glücklicherweise sogar in der komfortablen Situation, dass die Technik immer auf dem neuesten Stand war. Aber das ist leider nicht überall so. Ich kenne wirklich viele berufliche Schulen, in denen Kupferkabel und Tageslichtprojektor noch zum Alltag gehören.

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: In Baden-Württemberg!)

– Nein, überall. – Daher sage ich: Sie machen es sich mit Ihrem Ruf nach mehr digitalen Angeboten einen Tick zu einfach. Versuchen Sie doch mal, mit einem Faxgerät in eine Onlinejobbörse zu kommen.

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Irgendwie ist das doch eine Länderaufgabe!)

Deswegen wird die Ampelkoalition die Digitalisierung der Berufsschulen beschleunigen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Der DigitalPakt läuft inzwischen seit drei Jahren. Es ist aber nur ein Fünftel der Mittel abgeflossen. Deshalb werden wir Hürden abbauen und aus diesem Antragsmarathon einen Sprint machen.

Die Idee, KI beim Matching zwischen Ausbildungsplätzen und Azubis einzusetzen, ist nicht schlecht.

(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Aha!)

Aber Künstliche Intelligenz ist keine Wunderpille, mit der man schwuppdiwupp alle Probleme der Zukunft lösen kann.

(Stephan Albani [CDU/CSU]: Das sagt doch keiner!)

Algorithmen werden nie und nimmer individuelle Beratung und die persönliche Begegnung zwischen Menschen ersetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Dr. Götz Frömming [AfD] und Jessica Tatti [DIE LINKE] – Stephan Albani [CDU/CSU]: Das sagt doch gar keiner!)

Gerade die letzten beiden Jahre der Pandemie haben uns gezeigt, wie wichtig dieser persönliche Kontakt zu Schülerinnen und Schülern ist, dass wir sie eben nicht erreichen, wenn es keine persönliche Beratung gibt.

Mal ehrlich: Wir haben uns doch alle einmal im Leben für einen Beruf entschieden, eine Entscheidung für einen Berufsweg getroffen. Erinnern Sie sich an diese erste Entscheidung für einen Berufsweg? Wie wichtig war da die persönliche Ansprache? Weil die persönliche Beratung so wichtig ist, brauchen wir mehr Berufsbildungsmessen, um in den persönlichen Kontakt zu kommen. Und wir brauchen mehr Möglichkeiten für ein Praktikum. Ich muss doch wissen, wie es in einer Schreinerei riecht und wie sich Holz anfühlt, wenn ich Schreinerin werden möchte. Das kann kein noch so cooles Kampagnenvideo ersetzen. Das funktioniert nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ich habe es heute Morgen schon einmal gesagt: Das einwöchige Praktikum in der neunten Klasse reicht beim besten Willen nicht aus, um sich für einen Beruf zu entscheiden. Schülerinnen und Schüler – wir haben es eben gehört – müssen ihre Stärken kennen, ihre Fähigkeiten, ihre Kompetenzen kennenlernen und testen. Nur so finden sie ihren Traumberuf, den Beruf, der zu ihnen passt.

Ja, in den letzten 16 Jahren wurde einiges versäumt. Das werden wir jetzt nachholen. Wir werden mit der Berufsorientierung früher anfangen, und wir werden sie flächendeckend in den Städten, aber auch in den ländlichen Räumen ausbauen. Sie sehen: Wir haben uns viel vorgenommen. Besonders freut uns, dass die zuständige Bundesministerin, Bettina Stark-Watzinger, die berufliche Bildung zu ihrem Thema gemacht hat. – Vielen Dank!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Für uns in der Ampel ist es wichtig, dass Studium und Ausbildung gleichstehen. Wir werden die akademische Ausbildung definitiv nicht gegen die berufliche Bildung ausspielen. Bauen Sie doch mal ein Haus. Dann werden Sie ganz schnell sehen, dass Sie allein mit einer Architektin nicht weit kommen. Es braucht viel mehr. Neben der Architektin brauchen Sie die Schreinerin, die Elektrikerin, die Fliesenlegerin. Und wer krank ist, braucht die Ärztin und Pflegepersonal. Wir brauchen also beides: mehr Master und mehr Meister.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen: Vielen Dank für die gute Zusammenarbeit in der Koalition. Gemeinsam werden wir die berufliche Bildung stärken und dem Fachkräftemangel begegnen.

Einen ganz wichtigen Meilenstein für bessere Ausbildungsbedingungen haben wir heute Morgen beschlossen. Wir haben nicht nur das BAföG für Studierende erhöht, nein, wir haben auch das BAföG für Azubis erhöht. Ich bin schon etwas verwundert, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Wenn Sie sich morgens hierhinstellen und gegen mehr Geld für Azubis stimmen, können Sie doch abends nicht sagen, dass Sie nur das Beste für Auszubildende im Sinn haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf des Abg. Stephan Albani [CDU/CSU])

Ist das nicht quasi ein Schlag ins Gesicht von Azubis? Heute Morgen hätten Sie doch eine sehr gute Gelegenheit gehabt, die Situation von Auszubildenden zu verbessern.

(Stephan Albani [CDU/CSU]: Das war nicht ausreichend, was Sie vorgelegt haben!)

Sie hätten einfach zustimmen können. Dann hätten Sie tatsächlich etwas ganz Praktisches getan, um die berufliche Bildung von Azubis zu stärken.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Sie müssen erst mal nachbessern, um die Inflation auszugleichen!)

Sie bekommen aber noch eine Chance. Wir freuen uns drauf.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)