Rede von Erhard Grundl Dokumentationszentrum zum Zweiten Weltkrieg

23.06.2022

Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Präsidentin! Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich sinngemäß eine Rede zitieren, die unser ehemaliger Kollege Manuel Sarrazin am 9. Oktober 2020 von diesem Platz aus gehalten hat. Er sagte: Als mein Großvater 1939 nach Polen einmarschierte, marschierte er nicht als Nazi ein. Er marschierte ein als Deutscher. Er marschierte ein als Teil einer deutschen Gesellschaft, die eine andere Nation unterjochen und auslöschen wollte, und breite Teile der deutschen Gesellschaft teilten dieses Ziel. – Zitat Ende.

Wer sich der Vergangenheit, sei sie auch noch so schmerzhaft, nicht stellt, der kann die Zukunft nicht gewinnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Thomas Hacker [FDP])

Nur eine lebendige Erinnerungskultur kann uns davor schützen, jemals wieder Täternation zu werden. Das Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ will genau das: die Erinnerung wachhalten. Das Dokumentationszentrum will ein Ort sein, an dem Fakten dokumentiert werden und Wissen vermittelt wird, und ein Ort, an dem der Opfer gedacht wird – 230 Millionen Tote in heute 27 europäischen Staaten als Folge von Krieg und deutscher Besatzung.

Es geht darum, die Zusammenhänge zwischen dem rassistischen, menschenverachtenden Weltbild und der nationalsozialistischen Lebensraumideologie aufzuzeigen. Es geht um Zwangsarbeit, um Lagersysteme, es geht um ein grausames Weltbild der Menschenschinder, das von Antisemitismus, Antiziganismus, Antikommunismus und Antislawismus geprägt war. Dabei war das Entwickeln von Feindbildern konstitutiv für den Nationalsozialismus. Der gemeinsame Feind einte dort, wo es keine positive Zukunft zu gestalten gab. Es geht auch um den Rassenwahn und das singuläre Menschheitsverbrechen der Shoa, des Holocaust.

Vor einer Woche stand ich am Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto, dort, wo Willy Brandt sich am 7. Dezember 1970 zur deutschen Schuld bekannt hat und für unser Land auf die Knie ging. Ich war damals knapp 8 Jahre alt, aber ich kann mich noch sehr gut an den negativen Aufruhr, den diese Geste in erzkonservativen Kreisen der deutschen Gesellschaft auslöste, erinnern. Erinnern hilft manchmal wirklich, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Thomas Hacker [FDP])

Heute erlebt Polen die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine unmittelbar. Gleichzeitig steht die polnische Bevölkerung solidarisch zu ihren ukrainischen Nachbarn. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das tut, berührt und beschämt. Diese Solidarität und diese Menschlichkeit machen Mut und Hoffnung. Sie nehmen uns aber auch in die Pflicht, unsere Nachbarn mit dieser Aufgabe nicht alleine zu lassen.

Meine Damen und Herren, das Dokumentationszentrum kann dazu beitragen, dass uns bewusst bleibt, dass unsere Gegenwart alles Vergangene enthält und damit auch unsere gemeinsame Zukunft in Europa.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Thomas Hacker [FDP])

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Sie haben die Quelle genannt. Sinngemäßes Zitieren kannte ich zwar noch nicht; das ist aber in Ordnung.

Damit erhält jetzt das Wort Dirk Wiese für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)