Rede von Erhard Grundl Dokumentationszentrum zum Zweiten Weltkrieg

Foto von Erhard Grundl MdB
19.10.2023

Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Nie wieder!“, wer das fordert, wer das heute ausspricht, muss dafür Sorge tragen, dass das Wissen über das, was passiert ist, vorhanden ist. So formulierte es Raphael Gross sinngemäß gestern im Kulturausschuss.

In der Literatur der Nachkriegsjahre begegnet uns der deutsche Wehrmachtssoldat zumeist als Opfer, als junger Mann, den es unfreiwillig in die Finsternis verschlagen hat. Während die deutsche Nachkriegsavantgarde für eine neue Literatur stand und sich mitten im Wirtschaftswunder verdienstvollerweise für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus einsetzte, reflektierten auch diese Schriftsteller ihre eigene Rolle als Kriegsteilnehmer nicht selbstkritisch. Da war die Avantgarde nicht weiter als die anderen. Noch weniger reflektierten sie das Trauma der Menschen in den europäischen Ländern, die der deutschen Besatzungsherrschaft von 1939 bis 1945 ausgeliefert waren. Bis zu 230 Millionen Menschen in Europa waren von dieser Besatzungsherrschaft betroffen. Von den 40 Millionen Menschen, die Opfer des Krieges wurden, waren die Hälfte Zivilistinnen und Zivilisten, der weitaus größte Teil davon in Osteuropa.

Die Zeit der Gewaltherrschaft hatte grausame Konstanten: kein Menschenrecht, kein Kriegsrecht, Mord an politischen Gegnern, Genozid, sexualisierte Gewalt, medizinische Experimente an Menschen, Raub und Zerstörung. Im Zentrum dieser Gewaltherrschaft stand die Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden. Eine andere Konstante war die gezielte wirtschaftliche Ausbeutung. Die Politik der verbrannten Erde wurde 1943 von Reichsführer SS Himmler ausgerufen. Kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene sollte nach dem deutschen Abzug in der Ukraine zurückbleiben. Die Folgen dieser Barbarei sollten noch jahrzehntelang zu spüren sein, und sie sind Teil der Gesamtverantwortung Deutschlands.

Mit dem Dokumentationszentrum soll nun zum allerersten Mal das besetzte Europa selbst im Zentrum stehen. Dabei geht der Realisierungsvorschlag über die einzelnen Nationalgeschichten hinaus. Er rückt die gemeinsame, grenzüberschreitende Erfahrung der Shoah von Zwangsarbeit, Patientinnen- und Patientenmorden, den Völkermord an den Sinti und Roma – hier exemplarisch genannt – ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zudem werden bislang wenig beachtete Opfergruppen – auch unter Frauen und Kindern – explizit betrachtet. Denn es gibt im Wissen und in der Aufarbeitung weiterhin große Lücken.

Die Rechtsextremisten der Höcke-Partei AfD versuchen, aus diesen Wissenslücken politisches Kapital zu schlagen. Darum sind sie so vehement gegen Erinnerungskultur. Darum wollen sie nichts wissen von Verantwortung. Sie verwenden bewusst Worte wie „Kollektivschuld“ oder „Schuldkult“, um den faulen und übelriechenden Kern ihrer Doktrin des Vergessens, des Verdrängens und der Verantwortungslosigkeit zu bemänteln. Aber das werden wir nicht zulassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Der Realisierungsvorschlag gibt uns Instrumente an die Hand, die für die Zukunft in Europa entscheidend werden können, wenn es um Verständnis, Annäherung und Versöhnung geht. Der Realisierungsvorschlag betont nicht das Trennende, sondern arbeitet die Gemeinsamkeiten heraus.

Ich bedanke mich bei den Kollegen Berichterstatterinnen und Berichterstattern der Ampel, bei Marianne Schieder und Thomas Hacker, bei den Unionskolleginnen Annette Widmann-Mauz und Dr. Christiane Schenderlein und bei Raphael Gross und seinem Team für die gute Zusammenarbeit bei diesem Projekt, das über Legislaturperioden hinausdenkt.

Das Ziel ist historisches Lernen, damit „Nie wieder!“ mehr ist als ein Versprechen, sondern gelebte Realität.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Für die Unionsfraktion hat das Wort die Kollegin Annette Widmann-Mauz.

(Beifall bei der CDU/CSU)