Rede von Sven Lehmann Dritte Option - Registrierung des Geschlechts im Geburtenregister

13.12.2018

Sven Lehmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Abgeordnete! Ich gebe zu: Es ist schwierig, Dinge nachzuempfinden, die man selbst nicht erlebt hat. Aber nur, weil sich etwas außerhalb der eigenen Realität abspielt, bedeutet dies nicht, dass es nicht trotzdem ein gleichwertiger Teil der Realität ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genauso ist es mit dem Geschlecht. Die Spezies Mensch besteht aus mehr als aus Mann und Frau. Sie besteht aus geschlechtlicher Vielfalt. Dass diese Realität nun endlich auch in deutsches Personenstandsrecht umgesetzt wird, ist ein sehr wichtiger und richtiger Schritt, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei spielt es übrigens keine Rolle, ob dies auf hunderttausend oder nur auf einen Menschen zutrifft. Alle Menschen haben das Recht auf Anerkennung ihrer Persönlichkeit und auf Schutz vor Diskriminierung. Das Bundesverfassungsgericht hat das unmissverständlich deutlich gemacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber: Zur Umsetzung dieses Urteils bräuchte es einen Gesetzentwurf, der den Vorgaben des Verfassungsgerichts entspricht, und das ist mit diesem Gesetzentwurf schlichtweg leider nicht der Fall. Wenn der Bundestag das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung weiterhin ignoriert und stattdessen versucht, Menschen durch ein diskriminierendes Verfahren zu schleusen, dann können wir diesem Gesetzentwurf heute leider nicht zustimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Entwurf sagt nämlich nicht, es gibt künftig die Option „divers“ und jeder, der das für sich entscheidet, darf diese Option wählen. Nein, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird ein ärztliches Attest verlangt oder in Ausnahmefällen eine eidesstattliche Erklärung. Das ist einfach komplett absurd. Niemand kann über sein Geschlecht besser Auskunft geben als jeder Mensch selber. Eine Fremdbestimmung mittels Attest hat in diesem Gesetz nichts zu suchen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie des Abg. Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP])

Denn damit pathologisieren und bevormunden Sie intersexuelle Menschen, Sie begegnen Menschen, die diesen Eintrag wählen wollen, mit Misstrauen.

Es ist übrigens unübersehbar, dass dieser Entwurf aus dem Hause Seehofer stammt. Er errichtet so etwas wie eine Grenzkontrolle, die verhindern soll, dass Menschen, die aus Sicht der Großen Koalition nicht das Recht dazu haben, unkontrolliert aus dem binären Geschlechtersystem ausbrechen.

Ich frage Sie: Was würden Sie eigentlich verlieren, wenn Sie allen Menschen, die erklären, dass sie sich als divers eintragen lassen wollen, weil das nun mal ihrer geschlechtlichen Identität entspricht, dies auch zugestehen? Ich sage Ihnen, das würde die Weltordnung nicht ins Wanken bringen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Elisabeth Kaiser [SPD])

Wir Grüne stellen deswegen heute verschiedene Änderungsanträge und einen Entschließungsantrag zur Abstimmung. Wir fordern einen selbstbestimmten Geschlechtseintrag ohne Attestpflicht.

(Beifall der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir fordern, dass das Transsexuellengesetz endlich abgeschafft und durch ein modernes Gesetz zur Selbstbestimmung und zur Anerkennung der Geschlechtervielfalt ersetzt wird.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir fordern, dass Operationen und Hormonbehandlungen an Säuglingen, die nicht medizinisch notwendig sind, endlich verboten werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN und des Abg. Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP])

Und wir fordern, dass intersexuelle und transsexuelle Menschen, denen Leid zugefügt wurde, dafür entschädigt werden; denn der Staat hat sich mit seiner Gesetzgebung schuldig gemacht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Doris Achelwilm [DIE LINKE])

Transsexuelle mussten sich bis 2011 einer operativen Angleichung ihrer Genitalien unterziehen; nur so durften sie ihre falsche Geschlechtszuordnung korrigieren.

Der Staat ist seiner Schutzpflicht auch gegenüber intersexuellen Menschen nicht nachgekommen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bis heute leiden viele von ihnen darunter, dass sie sich im Kindesalter mehrfach unumkehrbaren Operationen unterziehen mussten. Liebe Abgeordnete des Bundestages, ich finde, es ist an der Zeit, dass wir uns bei diesen Menschen entschuldigen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)