Rede von Awet Tesfaiesus Einsprüche zur Bundestagswahl 2021

Awet Tesfaiesus MdB
10.11.2022

Awet Tesfaiesus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Schnieder sagte gerade: 72 Jahre lang funktionierte das Wahlprüfungsverfahren gut. – Er scheint nicht erkannt zu haben, dass es seit dem Bestehen der Bundesrepublik keine Vorkommnisse gab, die mit dem, was bei der Wahl am 26. September letzten Jahres beobachtet werden konnte, vergleichbar wären.

Was dort stattfand, wird sicherlich nicht als Sternstunde der Demokratie in die Geschichte unserer Bundesrepublik eingehen.

(Martin Reichardt [AfD]: Nee, das war eine Katastrophe!)

Zu Recht haben zahlreiche Bürger/-innen und auch der Bundeswahlleiter Einspruch eingelegt. Was wir in den Einsprüchen lasen, war sehr beunruhigend. So schrieb eine Wahlberechtigte: Wir standen mit unseren ein- und vierjährigen Töchtern ab 12.15 Uhr in der Schlange. Um 13 Uhr, noch außerhalb des Gebäudes, habe ich mein Warten abgebrochen, bin nach Hause gegangen, damit meine Töchter Mittag essen konnten. Ich habe mindestens vier andere Personen gesehen, die aufgrund ihres Alters und der langen Wartezeit irgendwann auf ihre Stimmabgabe verzichtet haben. – Das, meine Damen und Herren, ist nicht hinnehmbar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Stephan Brandner [AfD]: Wer ist denn dafür verantwortlich?)

Die Gründe für dieses Chaos sind vielfältig: zu wenige Wahlkabinen, falsche, fehlende Wahlzettel, Nachlieferungen, die im Stau stecken blieben – all das wurde bereits genannt.

(Dr. Oliver Vogt [CDU/CSU]: Ja, wer ist denn dafür verantwortlich?)

Diese Mängel in der Organisation schaden unserer Demokratie und dürfen sich nicht wiederholen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

In der Bundesrepublik haben Bürger/-innen berechtigte Erwartungen an den Ablauf einer Wahl. Bei uns gibt es glücklicherweise keine ungeschriebene Regel, die besagt: Wenn du wählen gehst, vergiss deinen Campingstuhl nicht! – Damit beziehe ich mich nicht auf einen dieser Staaten, die Herr Schnieder vielleicht gemeint hat, sondern auf die USA. Den berechtigten Erwartungen ist man, das haben die unzähligen Beschwerden gezeigt, in zahlreichen Wahllokalen nicht gerecht geworden.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es diese Probleme nicht überall in Berlin gab. Über 75 Prozent aller Wahlberechtigten haben gewählt – ja, manchmal trotz Schwierigkeiten. So nachvollziehbar der Ärger und die Enttäuschung in vielen Fällen sind, so schwierig ist es, die richtige Antwort auf die folgenden Fragen zu finden – Fragen, die sich auch für den Ausschuss ganz neu gestellt haben –: Gibt es eine zumutbare maximale Wartezeit? Was, wenn sich die Fehler nur auf die Zweitstimmen auswirken? Kann man die Zweitstimmenabgabe ohne die Erststimmenabgabe wiederholen? Was, wenn die Protokollierung in den Wahllokalen nicht stimmt, zu wessen Lasten geht das? Zu vielen dieser Fragen kann man mit guten Gründen unterschiedliche Meinungen haben – Meinungen, die alle auf dem Boden des Rechts stehen, die sich gut begründen und vertreten lassen. Deshalb haben wir auch lange argumentiert, lange gehadert: weil es an dieser Stelle – wie die Opposition zu meinen glaubt – keine einfachen Antworten gibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

In langjähriger Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht klare Vorgaben für die Wahlprüfung formuliert: Gibt es Wahlfehler? Sind diese Fehler mandatsrelevant, das heißt, wirken sie sich auf das Wahlergebnis aus?

(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Ja!)

Und schließlich: Ist die daraus folgende Maßnahme verhältnismäßig?

(Dr. Oliver Vogt [CDU/CSU]: Ja! Natürlich!)

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit spielt eine wichtige Rolle, er ist nicht umsonst ein Grundsatz von Verfassungsrang. Wir müssen einen Beschluss fassen, der es sowohl den Betroffenen ermöglicht, ihre Stimme abzugeben, aber auch den Eingriff auf das Nötigste beschränkt. Die Stimmen von 75 Prozent der Berliner dürfen nicht – das scheint die Opposition nicht verstanden zu haben – leichtfertig annulliert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Ganz genau! – Weiterer Zuruf von der SPD: Wichtiges Argument!)

Weil die Opposition sich so sehr auf die Wahlkreise bezieht, sage ich: Wir haben doch in der Anhörung den Bundeswahlleiter gefragt, ob es auch legitim ist, nicht für ganze Wahlkreise eine Neuwahl vorzusehen, sondern wirklich zu schauen, in welchen Wahllokalen die Fehler passiert sind, und nur dort neu wählen zu lassen. Und seine Antwort war: Auch dieser Weg ist möglich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Diesen manchmal steinigen Weg sind wir also gegangen und zu dem Ergebnis gekommen, dass in 327 Wahllokalen Fehler von relevantem Ausmaß vorkamen. 104 Wahllokale sind als Briefwahllokale mit diesen verknüpft, sodass wir schließlich zu dem Votum kommen, dass die Wahl in insgesamt 431 Wahllokalen zu wiederholen ist. Damit werden über eine halbe Million Berliner genau in den Wahlbezirken, in denen die Fehler passiert sind, zur Wahl aufgerufen.

Damit diese Bürger/-innen nun schnellstmöglich

(Stephan Brandner [AfD]: Berliner/-innen!)

– nun schnellstmöglich – Rechtssicherheit bekommen, bitte ich Sie, dem vorliegenden, meines Erachtens ausgewogenen Votum zuzustimmen.

Damit danke ich Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Yvonne Magwas:

Für die AfD-Fraktion erteile ich das Wort Thomas Seitz.

(Beifall bei der AfD – Stephan Brandner [AfD]: Jawohl!)