13.09.2018

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestern waren wir Zeugen eines bizarren Schauspiels hier im Haus. Der Behördenchef des Bundesamts für Verfassungsschutz verwandelte die eine krude Verschwörungstheorie, dass die rechtsextremen Ausschreitungen von Chemnitz nicht so schlimm gewesen seien, in eine andere Verschwörungstheorie, nämlich dass die Medien durch ihre falsche und verzerrende Berichterstattung schuld an der aufgeheizten Stimmung und der gesellschaftlichen Spaltung in diesem Land seien.

(Beifall bei der AfD)

Das alleine, meine Damen und Herren, ist ein unfassbarer Vorgang.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Jürgen Braun [AfD])

Beide Theorien sind weitgehend faktenfrei vorgetragen worden, und beides sind – das konnten Sie an den Einlassungen von Herrn Curio eben und an dem Applaus sehen – nichts anderes als rechte, ja rechtsextreme Verschwörungstheorien.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Verbreitung solcher Theorien und Erzählungen verbietet sich für jeden in diesem Land, der Verantwortung trägt, erst recht für einen Chef der Bundesbehörde „Bundesamt für Verfassungsschutz“, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Die letzten Wochen und Monate haben einmal mehr deutlich gemacht: Unsere freiheitliche demokratische Grundordnung steht unter Druck. Sie ist massiv unter Beschuss, und diejenigen, die unsere Freiheit und unsere Toleranz hassen, den liberalen Rechtsstaat und unser demokratisches System offen infrage stellen, sitzen längst auch in diesem Parlament, nämlich dort.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Herr Kollege von Notz, der Kollege Braun würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein, vielen Dank. – In diesen Zeiten kommt es darauf an, dass wir, die überwältigende Mehrheit in diesem Land und in diesem Parlament, unsere Verfassung als Demokraten gemeinsam entschlossen verteidigen, meine Damen und Herren, und das heißt selbstverständlich, dass wir die entsetzlichen Straftaten in Chemnitz und Köthen von der Justiz entschlossen und unnachgiebig verfolgen lassen und dass sie auch scharf bestraft werden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber das heißt eben auch, dass man denjenigen, die solche Straftaten nutzen wollen, um verständliche und legitime Trauer für Volksverhetzung zu missbrauchen,

(Zuruf von der AfD: Pfui!)

und denjenigen, die aus den Problemen und Herausforderungen der Migration eine neue Rassenideologie konstruieren wollen, ganz entschieden und entschlossen mit allen Mitteln des Rechtsstaats entgegentritt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Neben den Äußerungen von Herrn Maaßen zu Chemnitz war frappierend, zu was er sich nicht geäußert hat: das offene Auftreten der Adolf-Hitler-Hooligans, das Skandieren „Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer“, die massiven antisemitischen Übergriffe, die Körperverletzungen, der Landfriedensbruch, Hitlergrüße, insgesamt bisher über 120 Ermittlungsverfahren – all das megaverfassungsschutzrelevant. All das war dem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz nicht eine Silbe wert, nicht eine! Stattdessen gestern Wortklauberei, Relativierung und Semantikseminare! Sie wollten gerade nach dem NSU Vertrauen zurückholen für den Verfassungsschutz. Das ist nicht gelungen. Das Vertrauen ist massiv erschüttert, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Deswegen brauchen wir einen glaubwürdigen und konsequenten Neuanfang, personell und strukturell. Wir haben dazu ganz konkrete Vorschläge gemacht.

Herr Seehofer, durch die Übernahme der vollen Rückendeckung für Herrn Maaßen haben Sie sich gestern einen Kronzeugen gegen Ihre eigene Politik geschaffen, gegen die Politik, die die CSU seit über zwölf Jahren bei jeder Entscheidung hier mitträgt, gegen die Sie aber mit maximaler Härte und Rhetorik weiterhin Stimmung machen. Dazu Ihr aufgeblähtes Ministerium, das entgegen Ihren Ausführungen eben weder im Bereich Heimat noch im Bereich Wohnen noch im Bereich Integration noch in anderen Bereichen Relevantes liefert, Ihr Stellungskrieg in der Bundesregierung gegen Frau Merkel, gegen weite Teile der CDU,

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Woher wissen Sie das eigentlich?)

gegen die SPD, gegen die gesamte Opposition, Ihre anhaltenden Liebesbekundungen, Herr Seehofer, gegenüber Leuten wie Viktor Orban, gegen den das EP gestern ein Rechtsbruchverfahren eingeleitet hat –

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Mein Gott, haben Sie auch noch andere Bausteine?)

all das, meine Damen und Herren, ist ein Prozess der Selbstzerrüttung. Sie schaden damit, mit dieser irrational abgründigen Dialektik, dem Ansehen der Politik insgesamt, aber eben auch diesem Hohen Haus, und das ist in diesen Zeiten einfach politisch verheerend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Ich sage Ihnen voraus, Herr Seehofer, dass Sie der gestern verstrichenen Chance, einen glaubwürdigen Neuanfang zu machen und eine klare Linie zu ziehen, noch sehr hinterhertrauern werden.

Ganz herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)