Rede von Margarete Bause Folgen der Corona-Pandemie – weltweite humanitäre Lage und Menschenrechte
Margarete Bause (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der katholische Pfarrer Martin Schlachtbauer lebt seit 20 Jahren in Ecuador, und wenn er von den verheerenden Auswirkungen der Coronapandemie in seiner Wahlheimat berichtet, wird er richtig zornig – Zitat –: Dieses lächerliche Gerede von der Menschenwürde. Es sind doch immer die Ärmsten, die jedes Unglück am meisten trifft. – Er bringt es damit auf den Punkt: Die Coronapandemie ist eine aktuelle globale Bedrohung, und doch verweist sie auf schon lange bestehende humanitäre Katastrophen und Krisen, auf Hunger und Armut, auf Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, die schon vor dem Ausbruch kaum Aufmerksamkeit und noch weniger Konsequenzen erfahren haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Pandemie verschärft das Leid Unzähliger, die schon bisher nicht genug zu essen und kein sauberes Wasser hatten, die krank und ohne medizinische Versorgung sind, die kein Dach über dem Kopf haben und nicht in die Schule gehen können, die diskriminiert, ausgegrenzt und unterdrückt werden und deren Menschenrechte schon bisher massiv verletzt werden.
Betroffene sind unzählige Kinder, Frauen, Männer in unzähligen Ländern wie Zentralafrika, Somalia, der Sahelzone, dem Südsudan oder Afghanistan, wo Krisen und Konflikte zum Dauerzustand geworden sind und wo insbesondere die Kinder am furchtbarsten leiden.
Die Coronapandemie verschärft die Situation von Millionen von Menschen, die seit Jahren im Jemen, in Syrien, in Libyen schwersten Kriegsgräueln und ‑verbrechen ausgesetzt sind und für die jetzt der Zugang zu humanitärer Hilfe fast unmöglich geworden ist und die auch kaum mehr eine Chance haben, von dort zu fliehen oder Asyl zu beantragen, weil die Grenzen dicht und die Resettlement-Programme ausgesetzt sind. Angesichts der globalen Bedrohung brauchen wir globales Denken und eine globale Kraftanstrengung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Martin Patzelt [CDU/CSU])
Nationalismus und Egoismus hatten schon in Vor-Corona-Zeiten katastrophale Auswirkungen – und jetzt umso mehr. Globale Solidarität und die Wahrung der Menschenrechte: Das muss unser Kompass in dieser Krise sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Kolleginnen und Kollegen, unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung leisten sich Populisten und Autokraten weltweit einen Überbietungswettbewerb bei Grundrechtseinschränkungen. Sie leugnen die Realität. Sie verbreiten Lügen und Verschwörungsmythen. Journalistinnen und Journalisten werden angegriffen, eingeschüchtert, festgenommen. Die Presse- und Meinungsfreiheit wird rücksichtsloser denn je unterdrückt – Beispiel Türkei, Beispiel Ungarn; man könnte die Liste noch sehr viel länger machen.
Menschenrechtsverteidiger werden noch brutaler verfolgt, eingesperrt oder umgebracht, sei es in Brasilien, Kolumbien, Ägypten oder auf den Philippinen. Mit großangelegten strategischen Desinformationskampagnen versuchen insbesondere Russland und China, demokratische Gesellschaften zu unterwandern und zu destabilisieren.
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ja!)
Wir erwarten hier von der Bundesregierung, gerade was China angeht, eine klare öffentliche Benennung und Verurteilung dieser Zersetzungspraktiken und keine mutlose Leisetreterei.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Aber auch bei uns lenkt die Coronakrise den Scheinwerfer auf schon lange bekannte und ignorierte Missstände, sei es das erschreckende Ausmaß häuslicher Gewalt gegen Frauen oder die miese Bezahlung in hauptsächlich von Frauen ausgeübten Berufen, sei es die Situation in Alten- und Pflegeheimen, wo schon vor der Krise die Voraussetzungen für gute Pflege kaum gegeben waren, sei es die moderne Sklaverei in der Fleischindustrie oder sei es die schäbige Weigerung, Flüchtlingskinder von den griechischen Inseln aufzunehmen, aus Lagern, in denen die Menschenwürde buchstäblich im Dreck versinkt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Martin Patzelt [CDU/CSU] und Michel Brandt [DIE LINKE])
Kolleginnen und Kollegen, kein Leben ist weniger wert. Jedes Leben ist gleich viel wert; das ist der Imperativ der Menschenrechte.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb müssen Menschenrechte und Menschenwürde die Basis und der Maßstab, auch und gerade in der Pandemiebekämpfung, sein, auf internationaler Ebene, auf nationaler Ebene, in unserem Alltag.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es geht um Respekt, es geht um Rücksichtnahme, und es geht um den Schutz der Schwächsten und der Verletzlichsten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Eberhard Brecht [SPD])
Wenn wir aus dieser Krise, die noch lange nicht zu Ende ist, etwas lernen wollen, dann dies:
Erstens. Wir müssen gemeinsam solidarisch und vorausschauend handeln, aktiv werden, bevor es zu spät ist.
Zweitens. Wir müssen bei der humanitären Hilfe klotzen und nicht kleckern.
Drittens. Wir müssen diejenigen schützen und stärken, die die Menschenrechte und die Menschenwürde verteidigen, sei es bei uns in den Pflegeheimen, sei es im Amazonas bei der indigenen Bevölkerung.
Viertens. Wir müssen die Widerstandsfähigkeit unserer Demokratie stärken gegen Zersetzungsstrategien von innen und außen.
Fünftens. Wir müssen darauf achten, Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen, indem wir die zivile Krisenprävention in das Zentrum der deutschen Außenpolitik rücken. Dazu gehört auch, keine Waffen in Kriegs- und Krisenregionen zu liefern oder an Regime, die Menschenrechte mit Füßen treten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sechstens. Wir müssen sofort mit umfassenden und wirksamen Maßnahmen die Klimakrise bekämpfen; denn auch die Klimakrise ist eine massive Bedrohung für die Menschenrechte.
Kolleginnen und Kollegen, das wäre das Sinnvollste, das wir aus dieser Krise mitnehmen können.
Danke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD und der Abg. Gyde Jensen [FDP])
Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:
Jetzt hat das Wort der Kollege Frank Schwabe, SPD.
(Beifall bei der SPD)