Rede von Nina Stahr Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche

Nina Stahr
22.09.2022

Nina Stahr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe CDU/CSU, als ich Ihre Anfrage bzw. Ihren Antrag gelesen habe, da wusste ich gar nicht so recht, wo ich anfangen soll, weil ich so viel den Kopf schütteln musste. Allein das Wort „Aufholprogramm“. Monatelang haben Sie Kinder und Jugendliche abgehängt, haben nicht alles für einen sicheren Kita- und Schulbetrieb getan, haben nicht genau hingeschaut, welche Kinder in die Kita gehen müssen und welche vielleicht zu Hause bleiben können.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Haben Sie mal das Programm gelesen, Frau Stahr?)

Sie haben pauschal Kitas und Schulen geschlossen, um dann festzustellen: Oh Wunder, da haben Kinder Lernrückstände und – oh Wunder – ausgerechnet besonders die, die ohnehin aus herausfordernden Verhältnissen kommen.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Also, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat keine Schule geschlossen! Das haben die Länder gemacht! Mein Gott!)

Na, dann machen wir doch jetzt mal ein Aufholpaket!

Nachdem Sie die Kinder monatelang abgehängt haben, sollten sie ihre Sommerferien opfern und Lernrückstände aufholen, und das in einer Situation, wo viele Kinder und Jugendliche selbst noch mit Depressionen und anderen psychosozialen Folgen zu kämpfen hatten.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Sprechen Sie eigentlich für Ihre Fraktion? – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das ist doch keine Bundesentscheidung gewesen!)

Es lohnt sich übrigens auch mal, in die Studien zu schauen, woher diese Depressionen eigentlich kommen. Es ist nämlich nicht so schwarz-weiß, wie uns hier mancher glauben machen möchte. Es ist eben nicht einfach nur die geschlossene Schule gewesen, und jetzt ist alles wieder gut, wenn wir nur irgendwie die Schule offen halten. Ja, wir müssen die Schulen offen halten; aber wir müssen sie dann auch sicher machen.

(Stephan Albani [CDU/CSU]: Es geht um das Aufholprogramm! – Zuruf des Abg. Thomas Jarzombek [CDU/CSU])

Denn die Geschichte vom 11-jährigen Mädchen, das Corona mit aus der Schule nach Hause gebracht hat und dessen Vater dann an Corona gestorben ist, lässt zumindest mich nicht kalt.

(Zuruf des Abg. Martin Reichardt [AfD])

Genauso wenig lässt mich kalt, wie die häusliche Gewalt gestiegen ist: 152 Kinder, die im ersten Coronajahr gewaltsam zu Tode gekommen sind, das sind 35 Prozent mehr als im Vorjahr. Schule auf oder Schule zu? Das darf nicht die Frage sein. Die Frage muss sein: Was braucht jedes einzelne Kind?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg. Nicole Höchst [AfD])

Haben Sie eigentlich mal mit Kindern und Jugendlichen gesprochen, mit Lehrkräften? Wissen Sie, was die brauchen?

(Nicole Höchst [AfD]: Oh ja!)

Die brauchen ein stabiles Umfeld. Die brauchen Zeit, um in der Schule in Ruhe wieder anzukommen, und nicht Nachhilfe in den Sommerferien. Diese Fokussierung auf Wissensvermittlung in der Schule, das ist so 19. Jahrhundert.

(Beifall der Abg. Denise Loop [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Stattdessen müssen wir die Lehrpläne entschlacken. Wir müssen Beziehungsarbeit in den Mittelpunkt stellen, gerade um die psychosozialen Folgen abzumildern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Christoph Meyer [FDP] – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Im 19. Jahrhundert wurde in der Schule digitalisiert?)

Und da bin ich sogar bei Ihnen, lieber Herr Jarzombek. Ich finde es großartig, dass Sie hier so interessiert nach dem Startchancen-Programm fragen.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Was können Sie uns denn zum Startchancen-Programm sagen?)

Aber das offenbart ja vor allem zwei Dinge: zum einen, dass offensichtlich wirklich große Fragezeichen bei der CDU/CSU sind, wie man eigentlich Schulsozialarbeit in die Schulen bekommt, und zum anderen, dass Sie genau dieses Unwissen jetzt kaschieren wollen, damit niemand merkt, dass sie in den letzten Jahren wirklich ausreichend Zeit gehabt hätten, das mal auszuprobieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Was haben Sie für das Startchancen-Programm eingestellt im Haushalt? – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das ist so schräg!)

Meine Zeit ist fast am Ende, und das ist vielleicht ganz gut so. Ich würde hier sonst irgendwann explodieren bei Ihren Anträgen. Deshalb komme ich zum Schluss. In dieser Pandemie wurden Kinderrechte mit Füßen getreten; Inklusion wurde um Jahrzehnte zurückgeworfen. Kinder und Jugendliche haben signalisiert bekommen: Ihr seid nicht so wichtig.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sprach-Kitas, was machen Sie damit? Was wollen Sie denn konkret? – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Was macht ihr denn jetzt?)

Wir sind ihnen schuldig, dass wir das ändern, und zwar nicht mit einem weiteren Aufholprogramm, sondern mit strukturellen Änderungen wie dem Startchancen-Programm. Das gehen wir als Ampel jetzt an.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Also, ich habe nicht verstanden, was ihr machen wollt!)