Rede von Margit Stumpp Ganztagsgrundschule

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10.09.2020

Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf. – Dieses Sprichwort beschreibt ganz richtig, dass Kinder am besten in einem gesunden sozialen Gefüge mit unterschiedlichen Ansprechpersonen aufwachsen. Wie sehr es Eltern überfordern kann, wenn die Erziehung ihrer Kinder ausschließlich auf ihren Schultern ruht, haben viele Familien in den letzten Monaten schmerzhaft erfahren, verschärft noch dadurch, dass auch die meiste Bildungsarbeit in die Familien verlagert werden musste. Das Ergebnis ist – so zeigen es Studien –: erhebliche Lerndefizite quer durch alle Familien.

Besonders groß ist die Not in Familien, die ohnehin in schwierigen Umständen leben. Aber auch in normalen Zeiten gilt: Nirgendwo hängt der Bildungserfolg so stark vom Elternhaus ab wie bei uns. Diese Erkenntnis ist alt, nur ändert sich nichts. Die Bildungsforschung belegt, dass eine gute qualitativ hochwertige Ganztagsschule einen signifikanten Beitrag zur Chancengerechtigkeit leisten kann. Das zeigen im Übrigen auch die Länder, die bei Vergleichsstudien regelmäßig an der Spitze liegen: Finnland, Schweden, Estland.

Der Ganztag ermöglicht individuelle Förderung und verzahnt hervorragend formale und non-formale Bildung. Ein rhythmisierter Ganztag schafft Zeit für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte, Bindungen zu stärken und zu kooperieren. Voraussetzung dafür ist, dass Lehrkräfte von Aufgaben entlastet werden, die mit guter Bildungs- und Erziehungsarbeit nichts zu tun haben: Verwaltung, Organisation – zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Vereinen – oder gar die Installation und Wartung von IT. Das sind Tätigkeiten, für die Schulen nichtpädagogisches Fachpersonal brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Beratung und Betreuung können von Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen geleistet werden. Erzieherinnen und Erzieher ergänzen dieses Angebot. Kurz: Eine gute Schule und damit auch ein gutes Ganztagsangebot bildet mit einem multiprofessionellen Personal das erwähnte Dorf, das den Kindern neben den Eltern das Rüstzeug für das Leben mitgibt.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Und Ihre Ideen von Pädagogik!)

Die Betonung liegt auf guter Ganztag. Die Koalition hat ja den Rechtsanspruch verabredet. Leider ist dort von Qualität nicht die Rede. Welche Folge das haben kann, sehen wir beim sogenannten Gute-KiTa-Gesetz. Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE])

Das Geld des Bundes sei eben nicht an Qualitätskriterien gebunden, heißt es. Ergebnis: Die Qualität in den Kindertagesstätten hat sich – zumindest durch das Programm – kaum verbessert, wie es die Bertelsmann-Studie von vor 14 Tagen zeigt. Dieser Fehler darf sich beim längst überfälligen Ganztagsausbau nicht wiederholen. Deswegen beschreiben wir in unserem Antrag, wie ein gutes schulisches Ganztagsangebot aussehen muss. Neben pädagogischen Rahmenbedingungen gehören dazu auch die entsprechenden Räumlichkeiten: multifunktionale Räume, die unterschiedlichen Lernanforderungen genügen, funktionierende sanitäre Anlagen, Raum für Bewegung und Erholung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE])

Die notwendigen Investitionen in Raum und Personal fordern sowohl Länder als auch Kommunen. Das Deutsche Jugendinstitut rechnet mit bis zu 7,5 Milliarden Euro an Investitionskosten und jährlich bis zu 4,5 Milliarden Euro für den Betrieb. Dazu kommt der aktuelle Investitionsrückstand an Schulen von jetzt schon 44 Milliarden Euro. Die Tatsache, dass infolge der Pandemie gerade auch die kommunalen Finanzen gewaltig unter Druck geraten sind, auch ohne die Daueraufgabe Digitalisierung der Schulen, macht offensichtlich, dass die Finanzierung der Bildung in der aktuellen Form nicht mehr tragfähig ist. Dies bestätigte jüngst auch das Bundesverfassungsgericht, wonach der Bund verpflichtet ist, die von ihm an Länder und Gemeinden delegierten Aufgaben auch auskömmlich zu finanzieren. Eigentlich logisch, weil fair.

Die Erfahrungen aus dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz waren aber völlig andere. Als Kommunalpolitikerin habe ich die ständig steigenden Beträge in unserem Gemeinde- und Kreishaushalt ohne entsprechenden Ausgleich mit Sorge verfolgt. Seit der Einführung des Rechtsanspruchs hat sich entgegen den Stimmen der Skeptiker der Bedarf auch im Bereich U3 und auch auf dem Land weit über die Prognosen hinaus erhöht, und die Eltern – auch bei mir im ländlich geprägten Raum – fragen zu Recht: Warum kann mein Kind den ganzen Tag in die Kita, aber nur den halben Tag in die Schule gehen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Warum muss ich den Familienalltag mit dem Schulkind komplett neu organisieren? Wie steht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Schulkindern? Wo bleibt die Unterstützung für Alleinerziehende? Es wird Zeit, dass wir diesen Widerspruch auflösen und im Rahmen eines modernen Bildungsföderalismus über alle föderalen Ebenen hinweg für gute Bildung und Chancengerechtigkeit an einem Strang ziehen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das rot-grüne Ganztagsschulprogramm zu Beginn des Jahrtausends hat damals wichtige Impulse gesetzt. Seitdem hat sich der Bedarf an Ganztagsplätzen in den Schulen aus den unterschiedlichsten Gründen deutlich erhöht. Aber nicht einmal die Hälfte der Kinder hat einen Platz. Und bis heute bleibt uns die Koalition die versprochene Initiative dazu schuldig. Wenn wir Teilhabe, Chancengerechtigkeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch die soziale Funktion der Schule ernst nehmen, brauchen wir viel mehr Ganztagsschulen, die den Ansprüchen an Schule mit Qualität gerecht werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE])

Unser Antrag formuliert die dafür notwendigen Schritte.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Thomas Oppermann:

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Marcus Weinberg.

Bevor Sie anfangen, Herr Weinberg, muss ich noch mal fragen: Ist jemand im Haus, der an der Wahl noch nicht teilgenommen hat? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich hiermit den Wahlgang.

Wir fahren fort mit der Debatte. – Herr Weinberg.

(Beifall bei der CDU/CSU)