Rede von Robin Wagener Gedenken an den Holodomor in der Ukraine

Robin Wagener MdB
30.11.2022

Robin Wagener (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Lieber Herr Botschafter Makejew! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Hungertod eines Menschen verläuft in den immer gleichen Phasen: In der ersten Phase verbraucht der Körper seine Glukosevorräte. Ein extremes Hungergefühl setzt ein, dazu ständige Gedanken an Essen. In der zweiten Phase, die mehrere Wochen andauern kann, beginnt der Körper, sein Fett zu verbrennen. Der Organismus wird dramatisch geschwächt. In der dritten Phase verbraucht der Körper sein eigenes Eiweiß, zehrt Gewebe und Muskeln auf. Die Haut wird dünner, die Augen werden größer, der Hals wirkt länger, Beine und Bauch schwellen an. Kleinste Bewegungen erfordern große Kraftanstrengungen. Verschiedenste Begleiterkrankungen beschleunigen den Tod: Skorbut, Typhus, Diphtherie. Dies, meine Damen und Herren, ist keine Theorie; dies ist das Schicksal von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, die 1932/1933 an mörderischem Hunger gestorben sind. Das sind die Opfer, derer wir heute gedenken.

Das sind die Schilderungen, die uns die Historikerinnen überliefern. Das sind die Bilder, die der aus dem heutigen Lwiw stammende polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin auch vor Augen hatte, als er den Begriff des Genozids, des Völkermords prägte. Bilder von Kindern, die im Klassenzimmer sitzend zusammenbrachen und verstarben, deren Körper anschwollen, deren Haut wegen massivster Unterernährung durchsichtig wurde, deren Haut riss; Erzählungen über Mütter, die die Hoffnung auf das Überleben ihrer Kinder verloren, die Söhne und Töchter präventiv töteten, damit diese den Hunger nicht länger aushalten mussten, damit sie das wenige Brot nicht teilen mussten. Das ist der Horror, der sich hinter dem Begriff „Holodomor“ verbirgt, dem Mord durch Hunger.

Dieser Horror hatte seine Ursache nicht etwa in einer Naturgewalt, nicht in schicksalhaften Missernten auf dem fruchtbaren Boden der Ukraine. Dieser Horror hatte seine Ursache im Kreml. Dort traf ein Diktator die grausame Entscheidung, die Kollektivierung mit Gewalt durchzudrücken und den Hunger zu verursachen. Die Tötung durch Hunger hatte auch die politische Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins, der ukrainischen Kultur und Sprache zum Ziel.

Meine Damen und Herren, die Parallelen zur heutigen Zeit sind unübersehbar. Wieder versucht ein Diktator im Kreml, die Ukraine zu unterwerfen, sie zu vernichten. Heute nutzt Putin dafür nicht allein die grausame Gewalt seiner Söldner und Soldaten, er nutzt nicht allein den Terror von Drohnen und Raketen. Er nutzt auch die gezielte Geschichtsfälschung als Handlungsgrundlage seines Krieges gegen die Ukraine.

Schon in der Sowjetunion wurde der Holodomor systematisch verleugnet und tabuisiert. Wir wissen heute, dass die russischen Besatzer das Mahnmal zum Gedenken an den Hungermord in Mariupol zerstört haben. Für die Verbrechen Stalins gibt es keinen Platz in der ideologisierten Geschichtspolitik Wladimir Putins. Deswegen verbietet er Organisationen wie zum Beispiel Memorial.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gegen diese Politik des Kremls helfen vor allem Aufklärung und Bildung. Die Schrecken des Holodomors genau wie die deutschen Verbrechen gegen die Sowjetunion und viele andere Kapitel der wechselvollen Geschichte der Ukraine und Osteuropas gehören prominenter in die Geschichtsbücher und Schulen; denn Wissen schafft nicht nur Empathie. Wissen schafft Widerstandsfähigkeit gegen Propaganda und Geschichtsklitterung.

Mit unserem Antrag setzen wir uns mit der brutalen Wahrheit stalinistischer Gewalt auseinander – nicht um die deutschen Verbrechen in der Sowjetunion zu relativieren, sondern um aus der historischen Wahrheit zu lernen. Interfraktionell eint uns der Wunsch, zu erinnern, zu gedenken, zu mahnen. Darum mein Dank an alle Beteiligten in den Fraktionen, die diesen Antrag gemeinsam getragen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Unser Mahnen muss auch den Blick auf die Realität in der Ukraine heute beinhalten, am 280. Tag seit Russlands Vollinvasion. Wenn wir uns der Wahrheit nicht verschließen wollen, dann dürfen wir die Augen vor den heutigen Opfern nicht verschließen. Zu diesen Opfern gehört Serhij. Serhij wurde heute vor genau einer Woche getötet, durch russische Raketen. Serhij wurde gerade von seiner Mutter gestillt und zum Schlafen in die Wiege gelegt. Kurz danach schlugen russische Raketen in der Entbindungsklinik ein. Serhijs Mutter durchlebte neun Monate einer Schwangerschaft in der Zeit des Terrors, des Krieges. Serhij wurde vergangene Woche getötet. Er wurde 48 Stunden alt.

Putins Wunsch bleibt die vollständige Unterwerfung der Ukraine und ihrer Menschen. Russisches Staatsziel ist die Vernichtung der Ukraine als eigenständiger Staat. Es macht mich nicht zum Kriegstreiber, Bellizisten oder Russenhasser, wenn ich Kindern wie Serhij ein Leben und ein Überleben ermöglichen möchte, wenn ich mich dafür einsetze, dass wir unser starkes Engagement für die Ukraine noch weiter stärken,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Thomas Lutze [DIE LINKE])

und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es gemeinsam schaffen, uns diesem Vernichtungskrieg entgegenzustellen.

Die politisch-historische Einordnung des Holodomors als Völkermord ist darum nicht nur Mahnung, sondern auch Auftrag an uns alle. Es ist unsere Pflicht, diesen Wahnsinn zu stoppen.

Diesen Appell richte ich nicht nur an uns Parlamentarierinnen und Parlamentarier; ich richte ihn an uns alle und damit auch an die Russinnen und Russen in Deutschland, im Ausland, in Russland: Ostanawítje etot užas! – Stoppen Sie diesen Horror! – Ostanawítje etu wojnu! – Stoppen Sie diesen Krieg! – Ostanawítje Putina! – Stoppen Sie Putin!

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Der Kollege Michael Brand hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)