Rede von Luise Amtsberg Geflüchtete aus Afghanistan

29.11.2018

Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss erst mal auf die Ausführungen meines Kollegen Throm antworten; wir haben darüber gerade noch mal ausführlich debattiert. Die Darstellung war, dass der faktische Abschiebestopp, das faktische Nichtabschieben erst 2017 eingeführt wurde und dass man das mit der Zerstörung der deutschen Botschaft in Kabul begründet hat. Das erinnern wir anders. Wir haben seit 2005 faktisch keine Abschiebungen nach Afghanistan gehabt. 2017 – das war die eigentliche Debatte – gab es trotz der Zerstörung der Botschaft in Kabul die Forderung der Großen Koalition, die Gruppe der Abzuschiebenden um die Straftäter, Gefährder zu erweitern und auch solche Personen abzuschieben. Flankiert wurde das durch die Äußerung der Kanzlerin im Juni, sozusagen gar keine Beschränkung mehr für Abschiebungen nach Afghanistan vorzunehmen. Also, die Historie ist eine komplett andere.

Das heißt, die Frage, die wir uns heute hier stellen müssen, ist: Was hat sich eigentlich in diesem Jahr gegenüber den Jahren davor an der Sicherheitslage in Afghanistan geändert, sodass wir diese Abschiebepolitik so rechtfertigen können? Das ist die zentrale Frage, um die es hier geht.

Wenn man den Ausführungen heute hier folgt, dann muss man wirklich die Frage stellen: Reden wir eigentlich vom gleichen Afghanistan? Wir haben komplett andere Erkenntnisse. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat Afghanistan aufgrund der aktuellen Entwicklung wieder als Krisenland eingestuft, also von „Post-conflict state“ in „State in conflict“. UN OCHA schreibt – ich zitiere –, zunehmend gebe es Anzeichen dafür, dass der ehemalige Konflikt niedriger Intensität jetzt zu einem Krieg eskaliert, und hält darüber hinaus fest, dass die Zahl der stark von Konflikten betroffenen Distrikte um 50 Prozent gestiegen ist.

Fast täglich gibt es Meldungen über neue Anschläge in Afghanistan. Die Sicherheitslage, sie scheint so fragil zu sein wie seit Jahren nicht mehr. Selbstmordanschlag in einer Militärbasis in Ostafghanistan: 27 tote Soldaten. Anschlag auf eine Versammlung religiöser Führer in Kabul: 43 Tote, 83 Verletzte. Mindestens 6 Tote, als sich ein Attentäter vor einer Schule im Zentrum von Kabul in die Luft sprengte. Gestern Nacht haben die Taliban in Kabul ein britisches Sicherheitsunternehmen angegriffen. Der Angriff dauerte zehn Stunden. 15 Menschen sind tot, 30 verletzt. – Das ist die Bilanz der letzten zwei Wochen.

Wer ernsthaft sagt: „Dieses Land ist sicher; wir können Menschen dorthin zurückführen; es gibt sozusagen keine direkte Bedrohung für sie“, der lebt weit weg von der Realität.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Die Bundesregierung behauptet, das Land sei jetzt sicherer als zuvor. Sie ist der Auffassung, dass man die bisherigen Beschränkungen aufheben kann und künftig jeden nach Afghanistan abschieben kann, der hier abgelehnt wurde.

Wir finden, das entbehrt jeder Grundlage. Um diese Abschiebungspolitik überhaupt zu rechtfertigen, hat sich die Bundesregierung eines weiteren Mittels bedient, nämlich der inländischen Fluchtalternativen, was auch immer das heißen mag. Wir haben mehrfach nachgefragt. Man konnte uns nie sagen, wo diese inländischen Fluchtalternativen in Afghanistan sind. Das ist eine Behauptung, die dazu dienen soll, diese Politik zu rechtfertigen. Eine Grundlage dafür gibt es nicht. Kabul kann schon gar nicht eine solche inländische Fluchtalternative sein; das hat auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen gerade jüngst wieder in seinen Guidelines lückenlos klargestellt. Aber auch das interessiert die Große Koalition nicht. Sie ignoriert diesen Beschluss einfach und bezieht ihn nicht in den Lagebericht des Auswärtigen Amtes ein. Ich finde, so kann man keine Außenpolitik betreiben, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Zu dem Lagebericht vielleicht noch einen einzigen Gedanken. Dieser Bericht soll die abschiebungsrelevanten Tatsachen darlegen und dem BAMF und den Behörden in Deutschland einen Leitfaden bieten, wie die Situation ist, um einschätzen zu können, ob man in die Region abschieben kann oder nicht, ob das vertretbar ist. Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn man diesen Bericht liest – das können nur wir Abgeordnete tun; er ist sonst verschlossen; die Öffentlichkeit kann nicht nachvollziehen, wie diese neue Politik inhaltlich begründet wird –, dann merkt man ganz schnell: Dieser Bericht ist euphemistisch, und er verwässert. Er spricht von „vergleichsweise stabil“. Er spricht von bestimmten Provinzen, die sicherer sind als andere, führt aber zum Beispiel nicht aus, dass es bevölkerungsarme Provinzen sind. Man hat das Gefühl: Die Komplexität der Konflikte wird überhaupt nicht abgebildet; ein Trend, ein sicherheitspolitischer Trend wird nicht beschrieben.

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollegin Amtsberg, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich muss zum Schluss kommen, ja. Entschuldigen Sie bitte, dass ich überzogen habe.

Fakt ist: Dieser Bericht wird der Realität in Afghanistan nicht gerecht. Aber er ist die Grundlage, auf der wir darüber entscheiden, ob es vertretbar ist, Menschen dorthin zurückzuschicken, ohne ihr Leben zu riskieren. Das sehen wir bei dieser ganzen Angelegenheit zum Thema Afghanistan nicht gewährleistet. Insofern: volle Unterstützung für den Antrag der Linken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)