Rede von Julian Pahlke Gemeinsames Europäisches Asylsystem

Julian Pahlke MdB
15.06.2023

Julian Pahlke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Demokratinnen und Demokraten! Ich habe den Eindruck, hier reden einige heute ein bisschen aneinander vorbei.

In der Union sind sich mal wieder alle einig, dass die Regelungen nicht scharf und autoritär genug sind. Aber was bleibt Ihnen auch anders übrig? Sie wollen ja schließlich inhaltlich den Anschluss an die AfD wahren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Oah!)

Von anderen wird diese Einigung als historisch bejubelt und als Lösung aller Probleme in Europa bezeichnet.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Genau dieses Gerede macht die AfD salonfähig!)

Auch denen muss ich sagen: Das wird leider nicht eintreten. Es gehört zu einer so großen und komplexen Reform schon dazu, die Verordnung auch inhaltlich zu bewerten und sich mal zu überlegen, was das am Ende in der Praxis bedeutet; denn diese Reform ist nicht die europäische Rettung für das alles, für die sie gerade gehalten wird.

Ich lese in der Presse von Erwartungen, und ich frage mich, ob wir da gerade alle den gleichen Verordnungstext haben. Denn seit Jahren gibt es ein zentrales Problem, das dringend beseitigt werden muss, damit sich überhaupt etwas ändert am Umgang Europas mit Geflüchteten. Ohne verpflichtende und funktionierende Verteilung besteht die Gefahr, dass Außengrenzstaaten wie Italien sich immer wieder aufs Neue alleingelassen fühlen. Das führt zu Pushbacks und dazu, dass sich Menschen weiter auf eine gefährliche zweite Flucht durch Europa aufmachen.

Dann wird erzählt, dass Schengen in Gefahr sei. Schuld sei diese Sekundärmigration; deshalb sei diese Reform ja so dringend nötig. Aber diese Reform sorgt im Zweifel dafür, dass es eine neue Sekundärmigration gibt, weil es für Außengrenzstaaten einen hohen Anreiz gibt, bei Ankünften diese Menschen einfach weiterzuschicken.

Es ist ja richtig, dass wir Freizügigkeit erhalten wollen. Was aber hilft es, wenn wir die Idee von Schengen schützen wollen, immer neue Binnengrenzkontrollen zu fordern, wie Sie von der Union es tun? Es geht Ihnen nicht um diese Reform; es geht Ihnen um den kurzen politischen, verhetzten Erfolg; das muss man, glaube ich, auch mal klar erkennen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ich höre immer wieder, dass über Asylverfahren in Haft geredet wird und öffentlich gefordert wird, dass vom Europaparlament Kinder aus diesen Haftlagern rausverhandelt werden müssen. Ich kann die Unzufriedenheit ehrlich verstehen – ich teile sie –, aber dann gehört es auch zur Ehrlichkeit, nicht das Europaparlament um Hilfe zu bitten, sondern stattdessen selber dafür zu sorgen, dass Kinder nicht in diesen Lagern landen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN – Jan Korte [DIE LINKE]: Was wollen Sie denn jetzt?)

Ich bin froh, dass die Herausforderungen der Kommunen erkannt wurden, dass darüber debattiert wird und dass man sich Gedanken macht. Aber bitte, tun wir doch nicht so, als würde sich mit dieser Reform nächste Woche die Lage in den Kommunen entspannen!

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, eben!)

Denn die Kommunen sind in dieser Situation wegen der Geflüchteten aus der Ukraine, die selbstverständlich unseren Schutz brauchen und ihn auch bekommen.

(Abg. Alexander Hoffmann [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Herr Pahlke – –

Julian Pahlke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Mit einem neuen europäischen Asylsystem ist keine Wohnung mehr gebaut und kein Kitaplatz mehr geschaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Herr Pahlke, möchten Sie eine Zwischenfrage aus der Union zulassen?

Julian Pahlke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nein. – Dass es diese Reform braucht, darüber sind wir uns alle einig; das sehen wir jeden Tag aufs Neue an den Außengrenzen. Das jetzige Dublin-System ist im Kern dysfunktional; es ist ungerecht, eben auch, weil es bestimmte Staaten mit der Verantwortung alleine lässt. Diese Verantwortung muss geteilt werden; nur dann kann eine Reform Verbesserungen bringen. Dieses System ist aber auch dysfunktional, weil die europäische Rechtsgrundlage von der EU-Kommission als Hüterin der Verträge eben nicht eingehalten wird.

(Zuruf der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE])

Mit einer Kommissionspräsidentin, die paralysiert zuschaut, wie Griechenland Menschen auf Rettungsinseln aussetzt und Malta illegale Pushbacks mit Fischerbooten durchführt, wird kein Unrecht verhindert. Mir fehlt der Glaube, dass von der Leyen jetzt plötzlich ihr Interesse für illegale Pushbacks entdeckt.

(Clara Bünger [DIE LINKE]: Die ist ja mit Giorgia Meloni unterwegs in der Welt!)

Die Einigung, wie sie im Rat beschlossen wurde, wird in der Summe wohl keine Verbesserung bringen; das zu sagen, gehört zu einer ehrlichen Debatte dazu. Weil sie im Kern keines der Probleme löst, hätte ich mir eine andere Entscheidung gewünscht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Sebastian Roloff [SPD] – Zuruf der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE])

Wenn es aber in diesem Parlament zu einem Anlass wird, laut zu johlen und zu klatschen, wenn wieder jemand mit markigen Worten Flüchtende ein Stück weiter entmenschlicht und wenn zwei Parteien am rechten Rand sich dabei einig sind, dass Familien mit Kindern in Haftlager gesperrt werden sollen,

(Zuruf der Abg. Andrea Lindholz [CDU/CSU])

dann spricht daraus die tiefe Verachtung für die Realität,

(Lamya Kaddor [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)

in der Menschen durch Krieg und Vertreibung in unermessliches Leid gedrängt werden.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Um die geht es gar nicht! Sie haben nichts verstanden! – Gegenruf der Abg. Lamya Kaddor [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da fühlen sich die Richtigen angesprochen!)

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Der Kollege Hoffmann zu einer Kurzintervention. Bitte.