Rede von Stefan Gelbhaar Generaldebatte Bundeskanzleramt

Foto von Stefan Gelbhaar MdB
23.11.2022

Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Haushaltsberatungen lassen sich immer sehr unterschiedlich lesen. Ich möchte jetzt eine ostdeutsche Perspektive hinzufügen. Ein Beispiel: Noch immer sind im Osten Löhne und Gehälter niedriger, die Vermögen und Rücklagen sind kleiner – ungefähr halb so groß. Im Ergebnis ist die finanzielle Belastbarkeit zwischen Rostock und Chemnitz auch nach 32 Jahren Einheit deutlich geringer. Das führt dann in einer Krisensituation schnell zu höherer Unsicherheit, und das wiederum zu lautem und lauterem Unmut.

Deswegen ist es wichtig, hier zu signalisieren: Die Ampel handelt. Die Energiepreisbremsen kommen – gut so! Das 49‑Euro-Bundesticket kommt – gut so! Das Kindergeld wird erhöht – gut so!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nur nicht den Alleinerziehenden! Denen wird es gleich wieder abgezogen!)

Damit sind nicht alle Probleme gelöst. Wann wären sie das je?

Aber: Dieser Haushalt gibt vielen Menschen Halt. Das Parlament hat gearbeitet. Der angekündigte heiße Herbst bleibt doch recht kühl. Jene, die die Unsicherheit und den Unmut gerade im Osten für ihre ganz eigene Agenda instrumentalisieren, ja, missbrauchen wollten, schauen ziemlich in die Röhre. Auch da sage ich: Gut so!

Ein weiteres Signal: Mit dem Bürgergeld kann ein ostdeutsches Trauma ein Stück weit abgestreift werden. Das bedeutet zwar nicht Entwarnung, aber machen wir uns das noch mal bewusst: Nach den krassen Umbrüchen der 90er-Jahre mit galoppierender Arbeitslosigkeit fiel die Arbeitslosenhilfe ersatzlos weg; Entrechtung und öffentliche Geringschätzung taten dann ihr Werk. Viele Menschen und eben überdurchschnittlich viele im Osten wurden dazu gebracht, jeden noch so unpassenden und mies bezahlten Job anzunehmen. Diesen Zustand zu verlassen, das ist ein Schritt, dem weitere folgen müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Warum aber wurden nun sowohl 49‑Euro-Bundesticket als auch Energiepreisbremse, Bürgergeld oder Kindergeld bislang kaum unter den Ost-West-Unterschieden betrachtet? Es fehlen ostdeutsche Reflexions- und Debattenräume, um Interesse und Bewusstsein zu verankern, zu wecken; sich explizit als ostdeutsch bezeichnende Medien fehlen weiterhin. Zum Vergleich: Nord-, west- und süddeutsche Medien bekennen sich dazu schon in ihrem Namen – ostdeutsche überhaupt nicht. Das ist ein gesellschaftlicher Webfehler.

Mit dem Transformationszentrum ist ein Reflexions- und Debattenraum geplant, mit dem Campus der Demokratie ein weiterer auf dem Weg. Ich kann daher die Bundesregierung nur ermutigen, rasch und konsequent diesen Weg zu gehen; denn Vertrauen in den Staat, in die Institutionen und die Menschen, die diese prägen, muss verdient werden. Dazu braucht es einen funktionierenden und handelnden Staat, dazu braucht es Identifikation, dazu braucht es Repräsentanz. Das macht sich fest an den Institutionen vor Ort. Das macht sich fest an der Sichtbarkeit von Personen im und aus dem Osten und damit eben auch an der Besetzung von Schlüsselpositionen. Gesichter und Geschichten – das braucht es,

(Yvonne Magwas [CDU/CSU]: Richtig!)

und finanzielle Widerstandsfähigkeit, unabhängig von den Himmelsrichtungen, durch das konsequente Angleichen der Einkommens- und Vermögensverhältnisse.

Das geht nicht mit einem Haushalt; das bedarf weiterer struktureller Veränderungen und eben dieses Bewusstseins, dieser östlichen Perspektive, übrigens auch über die Grenzen unserer Republik hinaus. Es ist zum Beispiel sehr stark, dass wir hier ein deutsch-französisches Bahnticket für die Jugend auf den Weg bringen. Dem muss nun ein ebensolches deutsch-polnisches Ticket folgen oder ein deutsch-litauisches oder deutsch-tschechisches.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Das ist dann diese Perspektive, dieses Bewusstsein, und das ist auch 2023 ein Arbeitsauftrag an alle von uns.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Hacker das Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)