Rede von Misbah Khan Generaldebatte Bundeskanzleramt

23.11.2022

Misbah Khan (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland haben wir Dekaden gebraucht, um uns an die Realität zu gewöhnen, dass wir ein Einwanderungsland sind, und das, obwohl wir mit den gewaltigen generationsübergreifenden Integrationsleistungen der Gastarbeiter/-innen-Generationen und später mit den vielen Zigtausenden vor den Kriegen dieser Welt Geflüchteten so viele gute Gelegenheiten dazu gehabt hätten. Wir hatten zu wenige Orte des Ankommens. Als Reaktionen auf rechte Gewalt in Mölln, in Rostock und in Solingen folgten Verschärfungen des Asylrechts. Deutschland wollte gar nicht, dass Menschen hier ankommen.

Mittlerweile haben wir erkannt, dass wir ein Einwanderungsland sind, dass wir ein Einwanderungsland sein wollen, ja, ein Einwanderungsland sein müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Seit Jahren sprechen wir davon, dass wir mehr Zuwanderung brauchen und was es bedeutet, wenn wir die Lücken, die wir haben, nicht füllen, die Zahlen, die wir erreichen müssen, nicht schaffen können. An jeder Ecke wird uns Personal fehlen, und das wird unser Leben bedeutend verändern. Eine lahmende Wirtschaft wird zu längeren Lieferzeiten führen. Wir werden Probleme in der Pflege bekommen, und auch der Zusammenbruch des Rentensystems kann eine Folge sein.

(Stephan Brandner [AfD]: Sie schüren ja Ängste, Frau Khan!)

Die Ampel liefert nun auch mit diesem Haushalt die notwendigen bundespolitischen Weichenstellungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Statt Menschen über Jahre durch Kettenduldung zu drangsalieren, geben wir ihnen eine Chance auf Bleiberecht und leisten damit auch einen Beitrag zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels. Die Ampel hat die frühere Arroganz, ja, die Fehleinschätzung der vielleicht nicht auf alle Fach- und Arbeitskräfte wirkenden Attraktivität Deutschlands endlich abgelegt. Es ist ein Irrtum, zu glauben, man müsse nicht viel tun und man müsse auch nicht viel leisten, man könne sich die Besten der Besten aussuchen, die alle Schlange stünden, um in Deutschland arbeiten zu können. Mit dem Haushalt und den Mitteln, die wir jetzt hier beschließen werden, stellen wir uns zum ersten Mal einer Realität, die zeigt, dass wir mit anderen Ländern in Konkurrenz um Arbeits- und Fachkräfte stehen, dass andere Länder in der Lage sind, noch besser auf die Bedürfnisse von Migrantinnen und Migranten einzugehen, dass sie weniger Schranken und weniger Restriktionen haben. Wir werden und möchten jetzt mehr Teilhabe und mehr Zukunftschancen bieten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Aber ehrlich und auch mal ganz plump gesagt: Wir können die besten Gesetze dieser Welt schreiben – wenn in Bautzen Geflüchtetenunterkünfte brennen, dann werden sich syrische Ärztinnen und Ärzte überlegen, ob sie nach Deutschland kommen oder ob sie nicht vielleicht doch lieber nach Neuseeland oder nach Kanada ziehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Und ein Weiter-so dieser Mixed Signals, wo wir je nach Stimmung, Gefühl und auch nach Tagesordnung Migrantinnen und Geflüchtete entweder an Bahnhöfen beklatschen oder ihre Unterkünfte mit Molotowcocktails bewerfen, können wir uns nicht leisten.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sind aber unterschiedliche Leute!)

– Ja, es sind unterschiedliche Leute. – Aber wenn wir die Anschläge und die Angriffe einfach hinnehmen, reißen wir die Arbeit vieler und die Integrationsbemühungen von noch mehr Menschen einfach ein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Die Arbeit der vielen Menschen, die sich um Ausbildungsplatz- und Arbeitsplatzvermittlung kümmern und für Begleitung starkmachen, wird mit Füßen getreten, wenn wir Menschen abschieben, die integrationswillig und vielleicht sogar in Ausbildung sind. Wir brauchen Signale, die positiv sind. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung. Wir brauchen gute, ambitionierte Bundespolitik. Aber das alleine reicht nicht. Wir brauchen auch eine Politik in den Ländern und in den Kommunen, die das unterstützt. Und wir brauchen auch Sie, liebe Union, dafür.

Investieren wir also gemeinsam in eine Willkommenskultur und gemeinsam in die Stärkung von antirassistischer Arbeit! Wir müssen raus aus dem Modus „Migration hören und Problem denken“. Die Willkürlichkeit der gesamtdeutschen Stimmung zu Migration ist wankelmütig, sie ist paradox, und, ehrlich gesagt, sie ist auch viel zu aufgeregt für die Tatsache, dass Migration eine Konstante in der Menschheitsgeschichte ist, eine Konstante, auf die wir schlicht angewiesen sind.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Gerald Ullrich das Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)