Rede von Dr. med. Paula Piechotta Generaldebatte Bundeskanzleramt

Dr. Paula Piechotta MdB
31.01.2024

Dr. Paula Piechotta (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2024 ist das Jahr wichtiger Landtagswahlen in Ostdeutschland, und deswegen steigt auch gerade wieder die Frequenz steiler Thesen zu Ostdeutschland in den deutschen Politik-Podcasts, die nicht gerade bekannt sind für die größte Ostdeutschlandkompetenz. Neulich war im Podcast „Machtwechsel“ die Rede davon: Die Bundesregierung versucht, sich die Stimmen in Ostdeutschland damit zu kaufen, dass sie den Ostdeutschen teure Arbeitsplätze hinstellt, zum Beispiel in Magdeburg mit Intel. – Meine Damen und Herren, nichts könnte falscher sein, und jeder, der so etwas behauptet, hat sich weder mit Ostdeutschland noch mit der Notwendigkeit dieser strategischen Chipinvestitionen beschäftigt. Ihnen wird jeder Abgeordnete der koalitionstragenden Fraktionen aus Ostdeutschland berichten können: Stimmen für die Demokratie kann man sich auch in Ostdeutschland nicht mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt erkaufen. Aber was man tatsächlich machen kann, ist, anzuerkennen, dass sich die Standorte Magdeburg und Dresden bei der Ansiedlung von TSMC und Intel durchgesetzt haben – auch gegen westdeutsche Standorte, die sich beworben haben –, und zwar zum Beispiel aufgrund der Verfügbarkeit von Flächen und der guten Investitionsbedingungen vor Ort. Die Bundesregierung finanziert das, weil es geostrategisch notwendig ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Christian Dürr [FDP])

Wer behauptet, dass das wieder nur ein Subventionsgeschenk an Ostdeutsche sei, der verstetigt nicht nur Klischees, sondern der beleidigt und macht einmal mehr Ostdeutsche klein – und das über 35 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung. Ich finde, das könnte jetzt wirklich mal zu Ende sein, auch in den großen deutschen Politik-Podcasts, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was Ihnen aber die ostdeutschen Abgeordneten der koalitionstragenden Fraktionen berichten können, ist – und das erleben wir jeden Tag zu Hause, bis in die eigene Familie hinein –: Dort, wo in Ostdeutschland Prosperität herrscht und Zuzug statt Wegzug stattfindet, ist plötzlich nicht nur die Lebenserwartung höher – da sterben die Onkel nicht mit 65 am Herzinfarkt wie in anderen Regionen Ostdeutschlands noch viel zu oft –, sondern ist auch die Zufriedenheit mit der gelebten Praxis der Demokratie höher. Dass wir uns für noch mehr prosperierende Regionen in Ostdeutschland einsetzen – auch mit den Mitteln des Bundeshaushalts –, ist angesichts der Geschichte nicht nur gerecht. Vielmehr ist es die ureigene Aufgabe jeder Bundesregierung, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Dafür sorgen wir in diesem Bundeshaushalt nicht nur mit der Unterstützung für Intel und TSMC sowie für Schwedt und Leuna – diese Unterstützung haben wir übrigens im parlamentarischen Verfahren noch einmal gerettet –

(Beifall des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU])

– lieben Dank, Sepp Müller, auch für die gute Zusammenarbeit an dieser Stelle –, sondern auch mit der Unterstützung der Forschung an regenerativen Kraftstoffen und nicht zuletzt auch mit der Absicherung des Chemnitzer Wasserstoffstandorts, mit zusätzlichen Geldern für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit in Halle und mit dem neuen Standort für die DATI in Erfurt. Das sind alles Punkte, die zeigen, wie wir Regionen in Ostdeutschland zu prosperierenden Regionen machen wollen, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Das ist am Ende nur fair. Denn dieser Landesteil hatte einfach so viel mehr Pech als alle anderen Landesteile, und dort spürt die Bevölkerung jetzt noch, Generationen später, dieses Pech am eigenen Leib in Form einer niedrigeren Lebenserwartung und eines niedrigeren Wohlstands. Wir alle haben daher gemeinsam die Aufgabe, Jahrzehnte später diese Ungleichheiten endlich Stück für Stück abzubauen, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Es ist heute schon viel über die aktuellen Demonstrationen gesagt worden. Wenn Sie sich die Karte des aktuellen Demonstrationsgeschehens für eine starke Demokratie anschauen, dann können Sie die ehemalige innerdeutsche Grenze nicht mehr erkennen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Otto Fricke [FDP])

Das ist neu, selbst im Vergleich zu 2018. Sie erinnern sich sicherlich an die Ausschreitungen in Chemnitz 2018, Stichwort „Hase, du bleibst hier!“ Danach gab es im September eine Demo unter dem Motto „Wir sind mehr“ in Chemnitz. Da hat man es den Ostdeutschen noch nicht zugetraut, dass sie alleine genug Leute auf die Straße kriegen. Da kamen Leute aus ganz Deutschland, vor allen Dingen aus Berlin. Wir fuhren nach Chemnitz und waren die Mehrheit. Aber schon am nächsten Tag war das nicht mehr so. Jetzt demonstrieren die Leute in Chemnitz genauso wie in Braunschweig, in Leipzig genauso wie in Esslingen und in Berlin genauso wie in Hamburg, weil wir in Westdeutschland endlich akzeptieren, dass es kein ostdeutsches Regionalproblem ist, die Demokratie zu verteidigen, und weil wir in Ostdeutschland genug Menschen haben, die sich jetzt trauen, auf die Straße zu gehen. Da ist Deutschland wieder ein Stück weiter zusammengewachsen in den letzten fünf Jahren. Das ist ein extrem großer Grund zur Freude, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Viele von uns fragen sich: Warum müssen wir eigentlich dafür auf die Straße gehen? Sollte es in diesem Land, selbst in dem Landesteil, wo die Demokratie nicht mal 40 Jahre alt ist, nicht selbstverständlich sein, dass niemals wieder jemand auf die Straße gehen muss gegen Parteien mit Deportationsfantasien? Da kann man das Gefühl haben, dass man eigentlich nicht auf der Straße stehen sollte. Aber ich möchte noch einmal daran erinnern: Wir können überhaupt nur auf die Straße gehen und für die Demokratie demonstrieren, weil Menschen in den 50er-Jahren der alten Bundesrepublik die Demokratie so klug und weise aufgebaut und in Ostdeutschland die SED-Diktatur so mutig zu Fall gebracht haben. Deswegen ist es auch ein großes Geschenk, dass wir nun gemeinsam auf der Straße demonstrieren können. Auch das kann einem ein besseres Gefühl geben, wenn wir diese Demonstrationen in den nächsten Monaten weitertragen, in Ost und in West.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Der nächste Redner ist Otto Fricke für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)