Rede von Dr. Janosch Dahmen Gesetzliche Krankenversicherung

23.09.2022

Dr. Janosch Dahmen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren, die Sie auf der Tribüne und andernorts zuschauen! Die Debatte, die wir hier erleben, ist von einigen aus diesem Hause in einem Maße unredlich geführt, das wirklich seinesgleichen sucht. Ich muss sagen: Das eine ist, eine Fehlerkultur hier in den letzten Tagen offenzulegen, bei der man jedes Mal, wenn es darum geht, was in der Vergangenheit nicht richtig gelaufen ist, mit Gejohle reagiert und einfach so tut, als sei es vergessen, und nicht einen Hauch von Demut an den Tag legt für Dinge, die falsch gelaufen sind und die jetzt korrigiert werden müssen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Das andere – und das ist viel schlimmer – ist, eine Oppositionsarbeit zu betreiben, die sich offensichtlich jeder Rechenschaft entzieht, wie denn Vorschläge, wie mit der Situation, die jetzt nun mal vorzufinden ist, umgegangen werden soll und wie das Defizit von 17 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung aufgelöst werden soll, aussehen könnten. Ich habe nicht gehört, dass aus den Unionsreihen die Aufhebung der Schuldenbremse gefordert wird.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe nicht gehört, dass Sie fordern, dass die Beiträge für die Menschen in diesem Land in einem Maße angehoben werden sollen, die keiner in diesem Winter stemmen kann. Ich habe nicht gehört, dass Sie fordern, dass Leistungskürzungen im Gesundheitswesen als Ausgleich für dieses Defizit durchgeführt werden sollen. Und sich einfach hinzustellen, ohne einen Hauch eines Vorschlags, wie das Defizit aufgelöst werden soll, das ist bei allen Fehlern der Vergangenheit heute unredliche Oppositionsarbeit. Ich muss Ihnen sagen: Das hätten wir uns nicht getraut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das wissen Sie doch gar nicht, Herr Dahmen!)

Präsidentin Bärbel Bas:

Herr Dahmen, gestatten Sie eine Frage oder Zwischenbemerkung von dem Kollegen Sorge aus der CDU/CSU-Fraktion?

Dr. Janosch Dahmen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Gerne, Herr Sorge.

Tino Sorge (CDU/CSU):

Vielen Dank, lieber Herr Kollege Dahmen, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Mich würde ganz konkret interessieren: Werden Sie das, was Sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben, nämlich die 10 Milliarden Euro an Zahlungen für ALG‑II-Bezieher dem Gesundheitssystem zur Verfügung zu stellen, zeitnah umsetzen? Mich würde vor allen Dingen interessieren, ob Sie der Meinung sind, dass jetzt die Abschmelzung der Kassenreserven, da sie ja im Vorfeld von den Versicherten aufgebracht worden sind, keine Leistungskürzungen bzw. indirekten Beitragssatzerhöhungen darstellt?

(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)

Dr. Janosch Dahmen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege Sorge. Ich will Ihnen darauf antworten.

Erstens. Selbstverständlich werden wir den Koalitionsvertrag umsetzen. Das beinhaltet auch, dass wir die Beiträge für ALG‑II-Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung auf das notwendige Finanzierungsmaß anheben werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Andrew Ullmann [FDP])

Wir werden auch den Bundeszuschuss dynamisieren, um einen ordnungspolitischen Automatismus zur Finanzierung hineinzubringen, und werden nicht die Serie von Digitalreformen wiederholen, die unstrukturiert ohne Digitalstrategie ein Riesenloch aufgerissen haben und jetzt mit dazu beitragen, dass wir hier solch ein Finanzierungsdefizit haben.

Zweiter Punkt Ihrer Frage. Ich bin nicht der Überzeugung, dass wir in Zeiten multipler Krisen irgendwo in der Ecke Reserven liegen lassen können, die wir brauchen, um die Not, die in diesem Land existent ist, abzufedern.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Insofern ist es richtig, jeden der beteiligten Stakeholder im Gesundheitswesen aufzufordern, zu sagen, wie wir gemeinsam einen Beitrag leisten können. Genau das tut das Gesetz, indem wir eben nicht sagen: „Eine der beteiligten Seiten muss alles schultern“, sondern bei den gesetzlichen Krankenversicherungen, bei den Krankenhäusern und im Bereich der niedergelassenen Ärzte gemeinsam schauen, wie ein Beitrag geleistet werden kann, um das Problem zu beheben. Das ist verantwortliche Politik.

Ich will Ihnen sagen: In der Opposition sind wir immer zu unseren Haushältern gegangen und haben die Refinanzierung von Kritikvorschlägen hier im Parlament vorher abstimmen müssen.

(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: So ist es!)

Ich glaube, es war bei der FDP nicht anders. Ich kann sagen: So geht verantwortliche Oppositionsarbeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Präsidentin Bärbel Bas:

Herr Dahmen, ich habe noch eine Zwischenfrage von der Kollegin Vogler aus der Fraktion Die Linke.

Dr. Janosch Dahmen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Vogler, gerne.

Kathrin Vogler (DIE LINKE):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. Sie haben ja gerade gesagt, dass Sie über die Schuldenbremse diskutieren wollen. Das finde ich auch sehr richtig. Da sind wir als Linke voll bei Ihnen; die Schuldenbremse hindert uns. Aber wir brauchen ja für die Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung eigentlich keine Sondervermögen zu heben, sondern wir haben als konstruktive Oppositionsfraktion ganz konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt, für die eigentlich auch eine Mehrheit hier im Hause möglich wäre. Sowohl Maria Klein-Schmeink, Ihre stellvertretende Fraktionsvorsitzende, als auch der Kollege Pantazis von der SPD und sogar der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Sepp Müller haben ja genau das gefordert, was wir in unserem Antrag zur Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze und der Pflichtversicherungsgrenze fordern.

Ich frage mich dann schon: Wie lange wollen wir, die wir offensichtlich eine politische Mehrheit hätten, um diese sehr gute Idee umzusetzen, noch warten? Diese Idee kann tatsächlich das leisten, was Karl Lauterbach gefordert hat, nämlich starke Schultern mehr tragen zu lassen als schwache. Wenn wir diese Möglichkeit haben, warum kämpfen wir nicht darum, dafür hier eine parlamentarische Mehrheit zu bekommen, statt uns vom Förderverein der Privatversicherungsunternehmen, vulgo FDP, an der Nase herumführen zu lassen?

(Beifall bei der LINKEN – Maximilian Mordhorst [FDP]: Peinlich! – Weiterer Zuruf von der FDP: Sehr, sehr peinlich!)

Dr. Janosch Dahmen (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vielen Dank, Frau Kollegin Vogler. – Zunächst mal möchte ich Ihnen und Ihrer Fraktion zugutehalten, dass Sie im Gegensatz zur Union konkrete Vorschläge gemacht haben, was man denn tun kann.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenngleich die Frage der Refinanzierbarkeit nicht in all den Vorschlägen hinterlegt ist, will ich doch wohl sagen, dass wir, wie eben angedeutet, selbstverständlich im Verlauf der Legislatur weiter gehende, umfassendere, strukturelle Reformen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung einschließlich der Diskussion zu der Anhebung der ALG‑II-Sätze, der Dynamisierung des Bundeszuschusses und auch der Frage der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze miteinander beraten und auch beschließen werden. Insofern: Zu sagen, dass diese Reform das letzte und abschließende Wort zur Weiterentwicklung und Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung ist, wäre falsch. Daher: Begreifen Sie dies als einen ersten Schritt, der von weiteren, sehr viel umfassenderen Reformen im kommenden Jahr gefolgt werden wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich fortfahren. Beim Thema Unredlichkeit kann ich es mir nicht verkneifen, einmal auf den bayerischen Gesundheitsminister Holetschek zu reagieren. Ich muss schon sagen: Dass Sie sich hierhinstellen und so tun, als hätten wir nicht überall und auch ausdrücklich in Bayern ein eklatantes Problem im Bereich der Investitionskostenfinanzierung, da gehört schon einiges dazu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Das wissen Sie doch alle mit Verantwortung in den Ländern. Beispielsweise bei den Verhältnissen bei Ihnen in Bayern können Sie sich nicht einfach hierhinstellen und eine Zahl mit sechs Stellen in den Raum werfen, damit das so klingt, als sei das viel, wenn es faktisch bei dem realen Wertverlust doch bedeutet, dass Sie seit 1991 40 Prozent weniger Investitionskostenförderung im Bereich Ihrer Krankenhauslandschaft betrieben haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Hat das was mit unserer realen Situation jetzt zu tun? Na selbstverständlich. Die fehlenden Investitionen führen dazu, dass jedes Krankenhausbett bei Ihnen in Bayern so viel Energie verbraucht wie ein Einfamilienhaus mit einer ganzen fünfköpfigen Familie. Das führt dazu, dass die Not der Kliniken im Moment so groß ist, dass die Kosten so stark steigen und dass wir jenseits dieses Gesetzes selbstverständlich weitere Rettungsmaßnahmen für die stationäre Versorgung auf den Weg bringen müssen.

(Tino Sorge [CDU/CSU]: Ja, dann bringen Sie die doch auf den Weg! Die warten schon seit Monaten darauf!)

Und jetzt zu sagen, dass nicht mit einem einzigen Gesetz die gesamten Probleme der Gesundheitspolitik gelöst werden:

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Tino Sorge [CDU/CSU]: Ja, dann priorisieren Sie doch! Priorisieren Sie doch!)

Ja, was ist denn das für ein Politikverständnis? Immer nur zu sagen: „Ja, Moment mal, hier liegt ein Vorschlag vor; aber es gibt auch noch andere Probleme, zu denen ist nichts gesagt worden“, das ist doch keine Politik. Das ist doch einfach nur Marktschreierei und Ablenkung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Gehen Sie doch auf die Vorschläge ein! Bringen Sie Alternativen ein! Sagen Sie, wie Sie es refinanzieren wollen, und seien Sie ehrlich zu den Menschen! Erzählen Sie nicht vor einer Wahl: „Es gibt kein Problem“, wenn 17 Milliarden Euro fehlen, sondern sagen Sie, was das bedeutet!

Inzwischen haben wir multiple Krisen, auf die wir reagieren müssen.

(Tino Sorge [CDU/CSU]: Multiple Regierungskrisen haben Sie!)

Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Wir tun das sehr verantwortungsvoll, indem wir mit allen Seiten sprechen. Dass jeder zunächst mal sagt: „Ich kann nichts geben, weil die Not bei mir groß ist“, ist doch selbstverständlich in diesen Zeiten. Das heißt aber nicht, dass wir nicht alle zusammenstehen und einen Beitrag leisten müssen. Das liefert das Gesetz.

Zum Rettungsschirm: Ja, wir werden zum Thema Energiekostenausgleich für Kliniken und Pflegeversorgung was tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ja, wir müssen bei der Inflationsbremse im Gesundheitswesen ansetzen und werden auf die Länder zukommen und sie beim Wort nehmen, dass wir das gemeinsam schultern.

(Tino Sorge [CDU/CSU]: Sie müssen nur unserem Antrag zustimmen! Stimmen Sie doch unserem Antrag zu!)

Ja, auch Strukturreformen sind mit der Krankenhauskommission auf den Weg gebracht worden und werden hier eingebracht werden. 16 Jahre verfehlte Politik sind wirklich nicht in 16 Monaten aufzulösen. Was glauben Sie denn? Das ist einfach unredliche Opposition.

Ich finde, da haben Sie noch eine Menge nachzuholen. Wir gehen hier die Probleme an und sind für ernstgemeinte Vorschläge offen und werden sie im parlamentarischen Verfahren gerne gemeinsam beraten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Präsidentin Bärbel Bas:

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jörg Schneider.

(Beifall bei der AfD)