Rede von Britta Haßelmann Gleichwertige Lebensverhältnisse

07.11.2018

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei all der Vielfalt und Unterschiedlichkeit in den Städten, den Gemeinden, den Regionen unseres Landes soll die im Grundgesetz geforderte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse garantieren, dass Unterschiede in der Lebensqualität nicht zu groß werden. Menschen sollen überall gleiche Chancen auf Teilhabe und die Entwicklung ihrer Lebensperspektiven haben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist heute nicht der Fall, und das wissen wir alle. Deshalb haben wir in der Tat kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und dies trägt die Bundesregierung seit Jahren mit sich herum.

Die Disparitäten werden immer größer. Trotz guter Konjunkturlage und steigender Steuereinnahmen, auch auf der kommunalen Ebene, hat diese Ebene 50 Milliarden Euro Kassenkredite deutschlandweit zu verzeichnen. Der Investitionsstau im Jahre 2017 betrug 159 Milliarden Euro. Diese zwei Zahlen nenne ich nur, um zu zeigen, wie groß der Handlungsdruck und die Handlungsnotwendigkeiten sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gleichwertigkeit bedeutet nicht, dass überall alles gleich ist. Aber, meine Damen und Herren, der Zugang zur Infrastruktur muss doch für alle Menschen möglich sein. Und da nutzen bloße Absichtserklärungen und Sonntagsreden nichts. Wenn der Bus nur zweimal am Tag fährt, die Schule, das letzte Jugendzentrum oder die Stadtbibliothek geschlossen sind, keine Tagespflegeeinrichtung in der Nähe ist oder der nächste Hausarzt gefühlt kaum zu erreichen ist, ohne dass man sich der Unterstützung der Nachbarn bedient, dann spüren Menschen doch die Einschränkung ihrer Teilhabe jeden Tag ganz hautnah. Und dagegen müssen wir was tun, meine Damen und Herren, und da reichen keine schönen Worte und Absichtserklärungen, auch nicht die, die vonseiten der Minister und Ministerinnen hier vorgetragen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Solidarität, Beteiligung und das Nicht-ausgegrenzt-Sein – das muss unser Credo sein. Es muss sich aber auch im politischen Handeln widerspiegeln. Frau Giffey, da frage ich Sie mal: Warum haben Sie letzte Woche einen Entwurf für das Gute-Kita-Gesetz vorgelegt, in dem eine befristete Finanzierung vorgesehen ist? Können Sie mal erklären, wie das mit Ihren Absichtserklärungen, die Sie hier abgegeben haben, übereinstimmt?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Jeder von uns weiß: Befristete Finanzierung im Gesetzentwurf bedeutet am Ende – wunderbar: wir alle freuen uns über gute Kitaqualität; wir fordern das und diskutieren das seit Jahren –, dass nach der Zeit der Befristung die Kommunen auf den Kosten sitzen bleiben. Das wissen Sie doch ganz genau.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Deshalb: Lassen Sie uns dafür sorgen, dass das Handeln, wie es angekündigt wurde, und das Handeln, wie es in der Realität ist, nicht so weit auseinanderklaffen. Das kann ich Ihnen nur raten; denn die Menschen spüren und wissen das. An dieser Stelle sind viele Menschen empfindlich und dann auch enttäuscht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das kann ich auch Ihnen sagen, Herr Seehofer. Es ist wunderbar, dass auch Sie jetzt das Thema Altschuldenfonds entdeckt haben. Ich frage mich aber: Warum haben Sie eigentlich als bayerischer Ministerpräsident noch vor kurzem in der Bund-Länder-Finanzkommission, bevor wir die 9,7 Milliarden Euro hier beschließen durften, verhindert, dass das Thema Altschuldenfonds für die Kommunen endlich diskutiert wird? Sie waren einer der Vertreter, die das verhindert haben. Ich kann Ihnen noch ein paar Ministerpräsidenten nennen, die dagegen waren, das zu tun. Am Ende waren die Bremer, die Schleswig-Holsteiner, die Saarländer und die Nordrhein-Westfalen ganz alleine mit dieser Forderung. Heute sagen Sie: Das Thema ist ganz wichtig. – Ich würde mich freuen, wenn da endlich was passiert. Vielleicht ist da Einsicht eingetreten. Das wäre für die Sache sehr gut; denn wir brauchen die Entschuldung der Kommunen und auch einen Anknüpfungspunkt von Bundesebene aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Uwe Schmidt [SPD])

Lassen Sie mich zuletzt noch sagen: Die Erklärung, dass wir eigentlich vier Ebenen sind, passt nicht. Ich will sagen, warum: Wir haben die große Aufgabe, die Förderpolitik der nächsten Jahre neu auszurichten, meine Damen und Herren. Und auch hier, Frau Giffey, lagen Sie falsch. Sie haben gesagt: Es gibt vier Ebenen: Bund, Länder, Kommunen und Zivilgesellschaft. – Wo bleibt eigentlich Europa?

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Denn 2020 bedarf es einer Neuausrichtung der europäischen Förderpolitik, und nichts hat so intensiv mit der Frage der Strukturpolitik in den Regionen zu tun – auch mit Blick auf unseren Haushalt – wie die europäische Förderpolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Kollegin Haßelmann, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Alles klar. – Deshalb darf man doch an solch einer Stelle die Diskussion über Regionen und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse niemals ohne Berücksichtigung der europäischen Ebene führen.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)