Rede von Sven Lehmann Hartz IV überwinden
Sven Lehmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Verfassungsgericht hat in dieser Woche in der Tat ein wegweisendes Urteil gesprochen. Es hat erklärt, dass die jetzigen Sanktionsregeln bei Hartz IV in Teilen verfassungswidrig sind. Es hat erklärt, dass die komplette Kürzung der Grundsicherung der Würde des Menschen widerspricht, und es hat selbst für eine noch so kleine Kürzung sehr hohe Hürden geschaffen. Es ist bedauerlich, dass unser oberstes Gericht das tun muss, wozu die Mehrheit in diesem Hause seit Jahren nicht bereit ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Umso mehr begrüßen wir dieses Urteil; denn es ist ein wichtiger Etappensieg für die sozialen Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger in diesem Land.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Und ja, das Gericht hält Mitwirkungspflichten für legitim; aber es sagt auch klar und deutlich: Man kann Bedingungen in der Grundsicherung aussprechen; man muss es aber nicht. – Es ist und bleibt eine politische Entscheidung, ob es Sanktionen auf das Existenzminimum geben sollte. Wir finden: Nein, diese Sanktionen sollte es nicht geben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das müssen Sie dem Steuerzahler begründen!)
Einer der Kernsätze des Urteils lautet – ich zitiere –:
… die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert …; sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht jedem Menschen aus sich heraus zu.
Ein Satz für die Ewigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Was ist aber seit Jahren die politische Debatte, die insbesondere von der Union immer wieder geführt wird? Da werden diejenigen, die auf Hilfe angewiesen sind, gegen die ausgespielt, die wenig Einkommen haben. Da wird von der sozialen Hängematte schwadroniert, als ob ein Leben am Rand der Gesellschaft tatsächlich irgendwie lustig wäre. Da wird so getan, als sei Erwerbslosigkeit persönliches Versagen und nicht etwa ein politisches Problem. Sie handeln also rein ideologisch, wenn Sie weiter an Sanktionen festhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
15 Jahre nach Hartz IV müssen wir feststellen: Dieses Gesetz hat viele Ängste bis weit in die Mitte der Gesellschaft ausgelöst. Gerade angesichts der großen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt – Digitalisierung, Transformation – fragen sich immer mehr Menschen, ob der Staat sie dabei tatsächlich schützt und unterstützt. Man muss sich aber nur mal eine Eingliederungsvereinbarung anschauen. Da liest man dann: „Antragspflicht“, „Auskunftspflicht“, „Pflicht zum Erscheinen bei Terminen“, „Pflicht zur Erreichbarkeit“, „Pflicht zur Annahme einer Arbeitsgelegenheit“, „Pflicht zur Minderung der Kosten der Unterkunft“ usw. – Pflichten, Pflichten, Pflichten,
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Aber das sind doch selbstverständliche Pflichten!)
und dann kommen noch einige wenige Rechte. Das ist nicht Augenhöhe. Das ist das Gegenteil von Augenhöhe. Das ist Misstrauen des Staates seinen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber, und zwar denjenigen gegenüber, die am meisten auf Hilfe angewiesen sind, liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
„Fördern und Fordern“ ist schon längst in einer Schieflage. Wir sollten also weg davon und hin zum Schützen und Unterstützen: zum Schützen vor Armut und zum Unterstützen, damit jeder Mensch an der Gesellschaft teilhaben und sein Leben selber bestimmen kann. Die Grundsicherung muss sanktionsfrei sein, und sie muss höher sein als heute.
Auch das Konzept der Bedarfsgemeinschaft hat in der Praxis negative Auswirkungen. Ich selber habe in meinem Wahlkreis vor Kurzem einen jungen Menschen getroffen, der nach sehr viel Mühe und mit sehr viel Unterstützung eines Sozialarbeiters eine Ausbildungsstelle angenommen hat. Er wohnt aber noch zu Hause, weil er sich eine eigene Wohnung nicht leisten kann. Weil seine Eltern in Hartz IV leben, ist er Teil einer Bedarfsgemeinschaft, und das heißt konkret, dass er von seinem Ausbildungsgehalt gerade mal einen Bruchteil behalten durfte. Nach wenigen Monaten schmeißt er frustriert das Handtuch und bezieht seitdem wieder ALG II.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn gerade junge Menschen so in Mithaftung für ihre Eltern genommen werden, dann ist das nicht nur unwürdig; es ist auch zutiefst schädlich für den Arbeitsmarkt, der so dringend Auszubildende braucht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Apropos Arbeitsmarkt: In den 15 Jahren Hartz IV ist einer der größten Niedriglohnsektoren in Europa entstanden. Die Zahl von Befristungen sowie Leih- und Zeitarbeit sind anhaltend hoch; 4,6 Millionen Menschen sind dauerhaft in Minijobs beschäftigt. Wir müssen endlich den Wert der Arbeit wieder stärken,
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
und das fängt mit dem Mindestlohn an. Es war ein Meilenstein, dass er eingeführt wurde. Aber er ist heute deutlich zu niedrig, und er ist nicht armutsfest. Der Mindestlohn müsste bei rund 12 Euro pro Stunde liegen, damit Vollzeiterwerbstätige von ihrer Arbeit auch leben können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Hier sagen aber einige: Weil die Löhne niedrig sind, muss die Grundsicherung noch niedriger sein. – Das ist fatal. Was wir stattdessen brauchen, sind höhere Löhne und eine bessere Grundsicherung, damit alle Menschen mit wenig Einkommen bessergestellt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Beides gehört zusammen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Zum Schützen und Unterstützen gehört auch eine bessere Förderpolitik in den Jobcentern. Wir müssen das Wunsch- und Wahlrecht von Arbeitsuchenden stärken. Jeder Mensch hat ein Recht auf Mitsprache. Keine Maßnahmen von der Stange, nicht das dritte oder vierte Bewerbungstraining, nicht die Hilfstätigkeit, die gar nichts mit den Berufswünschen der Menschen zu tun hat! Das passt nicht zu einem Arbeitsmarkt, der Fachkräfte in so vielen Branchen so dringend braucht.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen ein Recht auf Qualifizierung, ein Recht auf individuelle Weiterbildung. Denn wir dürfen kein Talent vergeuden; wir müssen jedes Talent heben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich komme zum Schluss. Ein moderner Sozialstaat im 21. Jahrhundert setzt auf Vertrauen, er setzt auf Augenhöhe, und er setzt auf gute Arbeitsangebote. Hartz IV leistet das nicht, und deswegen müssen wir Hartz IV überwinden.
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie haben es doch erfunden!)
Wir müssen nach und nach eine soziale Sicherung aufbauen, die Armut und Erwerbslosigkeit nicht zu einem persönlichen Versagen erklärt, sondern die Gesellschaft muss die Garantie aussprechen, dass jeder Mensch vor Abstieg geschützt wird und unterstützt wird, teilzuhaben. Das wäre eine wirkungsvolle und eine würdevolle Sozialpolitik.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kai Whittaker das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)