Rede von Dr. Anton Hofreiter Haushalt 2021 - Generaldebatte Bundeskanzleramt „Elefantenrunde“

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30.09.2020

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Seit einem halben Jahr erleben wir, wie das Coronavirus unser Leben auf den Kopf stellt. Ich verstehe ja jede und jeden, den das nervt und der das einfach schlichtweg leid ist. Aber es hilft alles nichts; denn wir haben noch einen verdammt langen Weg vor uns, und wann ein Impfstoff zur Verfügung steht, steht eben nicht hundertprozentig fest.

Deutschland ist bis jetzt ziemlich glimpflich durch diese Pandemie gekommen. Aber das muss überhaupt nicht so bleiben; denn es steht der Winter vor uns. Ich glaube, es ist ganz entscheidend, dass wir das, was uns bisher gut durch die Pandemie gebracht hat – Vorsicht, Vernunft und Solidarität –, weiter aufrechterhalten. Es ist entscheidend, dass wir die Bürgerinnen und Bürger dazu bringen, dass sie weiter so gut mitmachen. Aber entscheidend ist auch, dass wir als politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger das vorleben und gemeinsam gestalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn ich mir die Herausforderungen anschaue, die in diesem Winter auf uns zukommen, würde ich mir, ehrlich gesagt, mehr Gemeinsamkeiten – bei allen föderalen Unterschieden – und mehr Vorausplanung wünschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich kann absolut verstehen, dass man sich am Anfang der Pandemie schwergetan hat, dass man sich am Anfang der Pandemie unsicher war, wie man reagiert. Aber dass wir jetzt nach sechs Monaten immer noch keine vorausschauende Teststrategie haben, dass wir jetzt nach sechs Monaten immer noch darüber diskutieren, wann wir Luftfilter für die Schulen und für die Innenräume anschaffen, dafür sinkt mein Verständnis – bei allem Lob, wie es bisher gelaufen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, es muss uns klar sein, dass wir die Prioritäten eindeutig festlegen. Natürlich kann ich auch verstehen, dass die Leute privat feiern wollen. Ich glaube, man kann damit leben, wenn das noch eine Zeit, auch wenn es einem schwerfällt, nicht stattfinden kann. Aber ich glaube, es ist einfach sehr schwer, damit zu leben, wenn wieder die Schulen geschlossen werden müssten, wenn wieder die Kitas geschlossen werden müssten oder wenn wir wieder insgesamt einen Shutdown unserer Wirtschaft – der in Deutschland im Verhältnis relativ milde war – hätten.

Deshalb: Die Prioritäten müssen klar sein, und deshalb müssen wir dafür sorgen, dass wir bei den Dingen, die im Moment die Infektion treiben – wie private Festivitäten, wie Veranstaltungen, wie Fußballspiele, bei denen man gerne zuschauen kann, wenn alles wieder im Griff ist –, darauf achten, dass die Leute weiter mitmachen, sich im Griff haben, verantwortungsvoll sind und solidarisch sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben das erste Nothilfepaket gemeinsam erarbeitet und beschlossen, und das war auch gut so. Seitdem diskutieren wir über bestimmte Lücken. Es nervt einen ja schon fast selbst, es immer wieder sagen zu müssen: Aber warum sorgen Sie nicht endlich dafür – bei dem vielen Geld –, dass die Soloselbstständigen, die Kulturschaffenden eine vernünftige Absicherung bekommen? Das verstehe ich nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was ich, ehrlich gesagt, auch nicht verstehe, ist, warum Sie für die Grundsicherungsbezieherinnen und ‑bezieher nicht wenigstens temporär, angesichts dessen, dass so viele Hilfen aus Coronagründen wegfallen mussten, eine Erhöhung gewähren. Das wäre doch sinnvoll; das wäre doch ein Zeichen der Solidarität. Deshalb: Geben Sie sich da einen Ruck!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die sechs Monate haben uns in einer Deutlichkeit vor Augen geführt – wie ich das selber nicht erwartet hätte als Naturwissenschaftler –, wie verletzlich unsere Gesellschaft ist, trotz allem Wissen, trotz aller Technik und trotz allem Wohlstand, wie brüchig unsere Normalität ist. Ein Virus hebt seit Monaten die Welt aus den Angeln, und die Vorstellung, dass wir mit all unserem Wissen von den natürlichen Lebensgrundlagen entkoppelt sind, dass wir uns die Erde de facto Untertan gemacht haben, diese Vorstellung erweist sich als ganz krasse Illusion.

Die letzten sechs Monate sind auch eine ganz deutliche Warnung, die anderen ökologischen Krisen, wie die Klimakrise, das drohende sechste Massenaussterben, endlich ernst zu nehmen und endlich damit anders umzugehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In einer Welt, in der die Durchschnittstemperatur – das droht real – um 4 bis 6 Grad steigt,

(Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das wird ja immer mehr!)

da gibt es keine Normalität mehr für die Menschen, die da leben.

Deshalb ist echter Klimaschutz – echter Klimaschutz! – eine Voraussetzung für Freiheit und Demokratie, weil nur echter Klimaschutz uns geordnete Verhältnisse bewahrt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb: In Zeiten, in denen sich die Grundbedingungen so grundsätzlich ändern, gilt halt: Nur Veränderung schafft Halt; nur Veränderung bewahrt uns das, was uns lieb und teuer ist in dieser Gesellschaft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die letzten sechs Monate haben uns nicht nur unsere Verletzlichkeit vorgeführt, sondern die letzten sechs Monate haben auch eindrucksvoll gezeigt, wie viel Kraft in diesem Land steckt, wenn die politische Führung des Landes es ernst meint. Sie haben gezeigt, wie viel wir gemeinsam hinkriegen können und wie der demokratische Teil dieses Parlaments über sich hinauswachsen kann, und sie haben gezeigt, dass Solidarität, Hilfsbereitschaft und auch Veränderungsbereitschaft allen Unkenrufen zum Trotz viel tiefer als gedacht in den allermeisten Menschen dieses Landes verankert sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, die letzten sechs Monate haben auch uns, den demokratischen Teil des Parlamentes, gezwungen, über alte Gewissheiten nachzudenken. Wir haben, glaube ich, mehr erreicht, als das viele erwartet hätten. Es ist gelungen, ein Konjunkturpaket historischen Ausmaßes zu schmieden. Es ist gelungen, einen Wiederaufbaufonds auf europäischer Ebene mit über 750 Milliarden Euro zu beschließen, und ich will überhaupt nicht darüber streiten, wer da die erste Idee hatte.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Walter-Borjans! – Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Barbara Hendricks [SPD], an den Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU] gewandt: Früher als Ihr Herr Brinkhaus!)

Die Nothilfen wurden in wenigen Tagen beschlossen.

Unsere Demokratie und unser Land haben in dieser schwierigen Zeit gezeigt, was sie können.

(Ulli Nissen [SPD]: Kein Widerspruch!)

Unser Land hat Handlungsfähigkeit, Veränderungsbereitschaft und Solidarität bewiesen. Angesichts der Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte müssen wir uns das, glaube ich, bewahren. Dann können wir diese Herausforderungen auch bewältigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Antwort auf die Umbrüche kann nicht einfach die Wiederherstellung der alten Verhältnisse – also irgendwelche ideologischen Schlachten – sein. Wenn ich mir die großen Krisen anschaue, die auf uns zukommen, dann sehe ich, dass wir diese neue politische Kultur am dringlichsten bei der Bekämpfung der Klimakrise brauchen; denn wenn alle wissenschaftlichen Erkenntnisse stimmen,

(Zuruf von der AfD: Ja, wenn sie stimmen!)

dann ist die Klimakrise eine reale existenzielle Bedrohung für alle Menschen unter 25 Jahren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD: Ja, wenn!)

Bedauerlicherweise handelt die Bundesregierung in diesem Bereich nicht entsprechend; denn es ist völlig klar, dass mit dem Klimapaket des letzten Herbstes die Klimaschutzziele der Bundesregierung nicht eingehalten werden – geschweige denn die Paris-Ziele.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Abwarten!)

Es ist doch völlig klar, dass wir nach dem Ausstieg aus Atom und Kohle einen schnellen, verstärkten Einstieg in die sauberen erneuerbaren Energien brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber wo sind denn die Sondersitzungen im Bundeskanzleramt? Wo sind denn die schnellen Maßnahmen, um das durchzusetzen? Stattdessen legen Sie ein Erneuerbare-Energien-Gesetz vor, das den Ausbau der erneuerbaren Energien gefährdet und damit Klimaschutz und Versorgungssicherheit in Schwierigkeiten bringt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass der Verkehrssektor eine der größten Schwachstellen der Klimapolitik ist, ist doch auch keine neue Erkenntnis.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch im Kabinett!)

Trotzdem leisten Sie sich zum Teil ideologische Debatten der 80er-Jahre. Es wäre doch einfach, dem Verkehrsminister zu empfehlen, ein bisschen besser auf seinen Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden zu hören.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Christian Lindner [FDP]: Kretschmann könnte auf ihn auch hören! Er sieht es ja auch anders! – Weiterer Zuruf von der FDP: Das hat er jetzt nicht verstanden!)

Es ist natürlich eine gigantische Herausforderung, ernsthaften Klimaschutz zu machen. Es ist eine gigantische Herausforderung, die sozialökologische Transformation wirklich umzusetzen, und sie geht natürlich mit Zumutungen einher. Deswegen braucht es selbstverständlich Maßnahmen, um die wirtschaftliche Stärke des Landes und den sozialen Zusammenhalt zu erhalten. Was aber nicht geht, ist, sich hinter der Größe der Aufgabe zu verstecken und deshalb nur kleinste Trippelschritte zu gehen.

Es gab ja verschiedene Angebote aus der Bundesregierung. Ich biete Ihnen sehr gerne an: Lassen Sie uns noch vor Weihnachten einen gemeinsamen Anlauf für ein neues sozialökologisches Klimapaket starten, das einen wirklich wirkungsvollen CO-Preis mit sozialem Ausgleich, eine starke EEG-Reform, einen Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, kombiniert mit Hilfen für die Autoindustrie, Hilfen für die Stahl- und die Chemieindustrie, CO-frei zu werden, und eine gute Unterstützung für die Beschäftigten und die sozial Schwachen enthält. Dann können wir das nämlich auch gemeinsam schaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen auch in der Finanzpolitik einen neuen politischen Ansatz; denn wenn wir den Wettbewerb mit den USA und China bestehen wollen – die Herausforderungen sind gigantisch, insbesondere durch China, einem autoritären, immer diktatorischer auftretenden Regime, das gleichzeitig ökonomisch erfolgreich ist –, dann brauchen wir deutlich mehr Investitionen in den Klimaschutz, in moderne Technologien, in den Ausbau unserer Digitalinfrastruktur, in den Ausbau unserer Netze – mehr Investitionen in Köpfe und mehr Investitionen in Forschung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Konjunkturpaket enthält einige richtige Ansätze, aber dieses Konjunkturpaket darf nicht zur Eintagsfliege werden. Deswegen brauchen wir für die nächsten zehn Jahre einen großen Investitionspakt; denn die Schuldenbremse hat in vielem gut funktioniert, aber sie hat uns gleichzeitig einen gigantischen Investitionsstau beschert.

(Otto Fricke [FDP]: Ach!)

Da wir eine Volkswirtschaft sind und unsere Einnahmen deshalb von unserer ökonomischen Prosperität abhängig sind, müssen wir ausreichend investieren. Deshalb das nächste Angebot: Lassen Sie uns gemeinsam nicht die Schuldenbremse abschaffen, sondern die Schuldenbremse so reformieren, dass eine Nettoinvestitionsregel hineinkommt! Dann sind wir nämlich auch in der Lage, in den nächsten Jahren Investitionen zu tätigen und Planungssicherheit herzustellen, sodass wir nicht nur gut aus dieser Krise kommen, sondern auch die weiteren Krisen gut bekämpfen und dieses Land für die zukünftigen Generationen deutlich besser machen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vor Kurzem ist das Lager Moria abgebrannt. Die Menschen haben schon, bevor es abgebrannt ist, zum Teil seit Jahren unter unwürdigen Bedingungen leben müssen. Moria ist traurigerweise kein Einzelfall. Ich würde mir auch wünschen, dass wir eine gemeinsame europäische Lösung bekämen, aber eine gemeinsame europäische Lösung muss auf den universellen Werten der Menschenrechte beruhen. Das ist noch entscheidender. Deshalb: Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Städte und Länder – die gibt es nicht nur in Deutschland –, die Geflüchtete aufnehmen wollen, diese Geflüchteten auch aufnehmen dürfen und entsprechend mit Geldern unterstützt werden!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn wir uns erhalten, was uns bisher gut durch die Pandemie gebracht hat, dann haben wir auch gute Chancen, die Krisen der nächsten Dekade gut zu bekämpfen. Ich wünsche mir Tatkraft, Solidarität und Veränderungsbereitschaft. Dann werden wir diese Herausforderungen bewältigen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Thomas Oppermann:

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CSU/CDU der Kollege Alexander Dobrindt.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: „CSU/CDU“: Das war ja jetzt was! Ich habe es gehört! – Michael Theurer [FDP]: Super!)