Rede von Lamya Kaddor Haushalt 2022 - Innen und Heimat

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24.03.2022

Lamya Kaddor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es sind Szenen, die ich nicht vergessen werde, und ich möchte diese gerne hier mit Ihnen teilen. Hauptbahnhof Berlin, Freitagnachmittag, Ende einer Sitzungswoche, vor mir eine junge Frau mit einem Säugling im Wagen. Sie kann ihr Abteil nicht finden; mehrere Taschen hängen an ihr. Sie beginnt zu schwitzen. Die Reihung der Waggons hat sich verändert; die DB hat das auch schon durchgesagt. Aber wie soll sie das verstehen?

Ihr Ticket und das Abteil wollen einfach nicht zusammenpassen. Ihr Säugling schreit, und sie kann einfach nicht mehr, zumindest denke ich das. Ihr fällt sichtlich ein Stein vom Herzen, als ich sie auf Englisch frage, ob ich ihr helfen kann. Sie muss ein paar Abteile weiter. Sie lächelt mich an und geht dann von dannen.

Was, denke ich bei mir, wenn ich das wäre, mit meinen Kindern an der Hand in einem fremden Land, in einem fremden Zug, ein paar Habseligkeiten, die ich retten konnte, zusammengerafft in einer Tasche, mein Mann zu Hause geblieben, um Deutschland zu verteidigen? In welches Land würde ich überhaupt gehen? Wer würde mir helfen?

Szenenwechsel: Zu Hause in Duisburg angekommen; mein Nachbar, Frührentner, ist ehrenamtlich beim THW aktiv. Er möchte nach Polen fahren, um dort direkt zu helfen. Seine Frau will ihn auf keinen Fall fahren lassen; sie hat Angst um ihn.

Meine Damen und Herren, sie hat Angst, weil ihr Mann nach Polen will – Europa. Wir sprechen hier von Europa. Wir erleben gerade tektonische Verschiebungen, und Sicherheit, also die Sicherheit, in der wir uns zu sehr wähnten, ist ein zerbrechliches Gut. Ich bin den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern so dankbar für die Selbstverständlichkeit, mit der sie helfen, den Polizistinnen und Polizisten, den THW-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern, auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Städten und Gemeinden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir stemmen gerade als Land und als EU eine Menge, und ich bin – das möchte ich einmal deutlich sagen – beeindruckt von meinem Land und, ja, dankbar, dass wir das so hinkriegen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin auch sehr dankbar dafür, dass wir für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen eine europäische Einigung herbeigeführt haben. So geht Europa. Es ist unser Europa, und es ist gut möglich, dass dieses Europa den Kreml überrascht hat. Und wenn dem so ist, dann ist das gut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, und doch: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt uns nicht nur international, ganz anders als in den letzten Jahrzehnten, vor immense Herausforderungen. Was heißt das eigentlich für eine vorausschauende Innenpolitik? Wir brauchen eine nationale Sicherheitsstrategie, die einen erweiterten Sicherheitsbegriff zur Grundlage hat. Ich bin dem Bundeskanzler sehr dankbar, dass er gestern hier im Hohen Haus von Verteidigung und Sicherheit sprach. Wir können und dürfen militärische Verteidigung nicht ohne den zivilen Krisenschutz für die Menschen in unserem Land denken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die vergangenen Tage haben auch gezeigt: In der Ukraine handelt es sich nicht nur um einen militärischen Krieg, sondern auch um einen Informationskrieg, der im digitalen Raum ausgefochten wird. Gegen hybride Angriffe sollten wir gewappnet sein. Mögliche Beeinträchtigungen der kritischen Infrastruktur auch durch Cyberangriffe müssen ernst genommen werden. Dazu gehört ein möglicher Ausfall der Strom-, Wasser- oder Wärmeversorgung.

Wir wollen eine strategische Neuausrichtung und zügige Umsetzung der Konzeption „Zivile Verteidigung“. Stellen wir uns nur einen Stromausfall in einer Großstadt wie Hamburg oder in meinem Wahlkreis Duisburg vor. Nur drei Tage ohne Strom würden uns lahmlegen und Chaos erzeugen. Wir müssen schnell reagieren können. Wir müssen handeln, bevor so etwas passiert, nicht wenn so etwas passiert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Hier geht es aber auch nicht um Panikmache; aber kluge Politik handelt vorausschauend. Deshalb gehen wir mit klarem Blick unsere neuen Aufgaben an.

Es ist daher genau richtig, dass Sie, Frau Bundesinnenministerin Faeser, bereits angekündigt haben, den Zivilschutz auszubauen. Jetzt gilt es, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik unabhängiger zu stellen. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe braucht eine massive personelle und materielle Stärkung. Das BBK muss eine Zentralstelle sein, um sich an veränderte Lagen schnell anpassen zu können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch das THW steht bereit, seine Aufgaben umfassend zu erfüllen und, wo nötig, anzupassen, zum Beispiel bei der Lebensmittelbevorratung, die zentral organisiert gehört.

Die Resilienzfähigkeit ist für unsere hochtechnologisierte Gesellschaft einfach zentral, und zwar nicht nur beim Zivilschutz. Es ist ein Trauerspiel, wie die Behörden, die im Ernstfall genuine Schutzpflichten des Staates umsetzen müssen, in den vergangenen Jahren vom zuständigen CSU-geführten Haus kleingehalten und personell abgekanzelt wurden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

„Wie konnte das geschehen?“, möchte man an dieser Stelle Herrn Seehofer fragen. Aber gut, lassen wir das jetzt; es würde aller Voraussicht nach nichts bringen.

Geschätzte Kolleginnen und Kollegen, die russische Invasion der Ukraine hat auch durch Desinformation und Cyberattacken eine ernstzunehmende Bedrohungslage geschaffen. Aber hybride Angriffe sind nicht erst ein Problem seit Beginn des Putin’schen Krieges.

(Vizepräsident Wolfgang Kubicki räuspert sich)

– Sofort, Herr Präsident. – Eines ist aber auch klar: Demokratiefeinde mit Zugang zu Informationen, Waffen und Munition, Extremisten jeglicher Art dürfen nicht Diener dieses Staates sein; auch jeder Einzelfall ist einer zu viel. Das werden wir nicht dulden und, wo nötig, auch das Dienstrecht anpassen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Sie haben sich alle so gefreut, dass ich wieder präsidiere; das wird sich ändern mit der Freude, glaube ich.

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Lamya Kaddor [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kriege ich aber Angst!)

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD sowie des Abg. Matthias Helferich [fraktionslos])