Dr. Paula Piechotta MdB
06.09.2022

Dr. Paula Piechotta (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie von der Unionsfraktion haben gerade so hämisch gelacht und geklatscht. Wenn man sich dieses Kabinett anschaut und sich fragt, wer von diesen Ministerinnen und Ministern eigentlich das schwerste Erbe angetreten hat, dann gibt es einige, die einem einfallen, aber Volker Wissing ist definitiv in der engeren Auswahl.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Denn das, was wir diesen Spätsommer bei unserer Verkehrsinfrastruktur erleben, ist nicht das Ergebnis der Verkehrspolitik der letzten zwölf Monate. Wir erleben in diesem Spätsommer – egal ob wir auf die Schiene schauen, auf die Wasserstraße oder auf die Straße –, dass angesichts der neuen Realitäten – sie sind jetzt schon da: Klimakrise, steigende Energiepreise, international prekäre Lieferketten, Fachkräftemangel, Liefermängel bei Baustoffen etc. – unsere Verkehrsinfrastruktur tatsächlich nicht robust und flexibel genug ist und einfach nicht genug Puffer hat, um diese zusätzlichen Herausforderungen zu stemmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Henning Rehbaum [CDU/CSU]: Merkel ist schuld! Sagen Sie es doch: Merkel ist schuld!)

Verkehrspolitik funktioniert langfristig, und das ist das Ergebnis der letzten Jahrzehnte. Lassen Sie es mich konkret machen: Wir schauen auf die Wasserstraßen. Alle von uns haben es gelesen: historisch niedrige Wasserstände, nicht nur im Rhein, aber vor allen Dingen dort. Das führt dazu, dass weniger transportiert werden kann, was auch daran liegt, dass wir immer noch zu wenige Schiffe haben, die niedrigwasserkompatibel sind. Alles das, was dort nicht transportiert werden kann, soll verlagert werden. Die Unternehmen, die gerade versuchen, das Ganze auf die Schiene zu verlagern, merken in diesen Tagen, dass das ganz oft nicht geht. Jeden Tag könnten über 50 zusätzliche Güterzüge fahren, wenn die Kapazitäten da wären, aber sie können nicht fahren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Wir müssen politisch entscheiden, welcher Zug zuerst fährt.

Und wenn die Wasserstraße und die Schiene sich gegenseitig die Kapazitäten nicht abnehmen können, bleibt nur die Straße. Aber auch die Straße ist kein Verkehrsträger mehr, wo alles heile Welt ist. Auch bei der Straße gibt es aktuell Fachkräftemangel. Hinzu kommen Spritpreissteigerungen etc.

Aber zur Ehrlichkeit gehört auch, zu sagen: Es geht auch um die Kosten. Das hat der Kollege Frank Schäffler gerade sehr abstrakt und mit großen Summen dargestellt. Aber es geht auch ganz konkret, beispielsweise die A 143 bei Halle, bei uns um die Ecke. Die Kosten sind so explodiert, dass der Bund die Notbremse ziehen musste und man die Ausschreibung jetzt neu aufsetzen muss. Die Leute vor Ort nehmen das aber als Quasibaustopp wahr. Die „Mitteldeutsche Zeitung“ ist sicher kein Zentralorgan der deutschen Verkehrswende, aber ich zitiere mal daraus, auch zum genannten Beispiel A 143: „Die Zeit der großen Straßenbauprojekte könnte vorbei sein, weil sie, bleibt es bei diesen Preisen, einfach nicht finanzierbar sind.“

(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Das wollten Sie doch schon immer!)

Das ist die Realität. Und das schreibt nicht etwa die „taz“, sondern die „Mitteldeutsche Zeitung“ in Sachsen-Anhalt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben inzwischen ein Stadium erreicht, wo Bürgerinnen und Bürger in diesem Land sich nicht mehr darauf verlassen können, pünktlich und zuverlässig von A nach B zu kommen. Wir haben ein Stadium erreicht, wo für die Unternehmen in diesem Land die Logistik, die immer eine planbare Größe war, keine planbare Größe mehr ist, sondern ein täglich Kopfschmerzen induzierender Risikoprozess im Unternehmen.

(Zuruf von der AfD: Woran liegt es denn?)

Und das liegt daran, dass die letzten Jahrzehnte nicht genutzt wurden, um die aktuellen Herausforderungen anzugehen. Schauen wir uns doch mal an, wie lange Verkehrsprojekte dauern. Es stimmt ja: Wenn wir heute etwas entscheiden, dann ist das in 16, teilweise erst in 20 Jahren fertig.

(Henning Rehbaum [CDU/CSU]: Wer bremst denn die Projekte immer aus?)

Das bedeutet: Das, was wir heute planen und worauf wir heute die Prioritäten setzen, wird in der Mitte des Jahrhunderts realisiert, und es muss funktionieren unter den Bedingungen der Klimakrise.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

So schwer das hier einige von Ihnen verdauen können: Weil sie so langfristig ausgelegt ist, müssen wir die Konsequenzen der Klimakrise in der Verkehrspolitik schon jetzt besonders drastisch mitdenken. Das ist bislang nicht passiert.

(Enak Ferlemann [CDU/CSU]: Aha! – Florian Müller [CDU/CSU]: Statt die Ursachen zu bekämpfen! – Gegenruf der Abg. Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll das denn?)

Meine Damen und Herren, weil es so unglaublich wichtig ist, dass zentrale Projekte, zentrale Investitionen für eine gelingende Mobilitätswende nicht weiter verzögert werden, werden diese Haushaltsverhandlungen auch unter der Frage geführt werden, welche Prioritäten man setzen muss angesichts von Kostensteigerungen, sich verschärfenden Krisen etc. Vor diesem Hintergrund ist es unglaublich hilfreich, dass der Koalitionsausschuss am Wochenende 1,5 Milliarden Euro mehr für CO2-arme Mobilität und die Mobilitätswende beschlossen hat. Das hilft uns enorm, und es ist eine enorme Verbesserung gegenüber dem Entwurf, den das Kabinett zuerst vorgelegt hat.

Auf der anderen Seite ist es auch unglaublich gut, zu sehen, dass wir als Ampel sehr verantwortlich und fair in die Verhandlungen mit den Ländern gehen, um eine echte lastenverteilende Anschlusslösung für das 9‑Euro-Ticket zu finden.

(Enak Ferlemann [CDU/CSU]: Da sind wir sehr gespannt!)

Vernetzte Mobilität – vom Rufbus auf dem Dorf bis zur großen neuen, sehr schnellen ICE-Trasse – bedeutet ja, dass vernetzte Mobilitäts- und Verkehrspolitik gemacht werden muss. Sie braucht auch vernetzte haushälterische Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen. Und da haben wir noch ein ganzes Stück zu gehen, gemeinsam mit den Ländern und den Kommunen. Aber das wird notwendig sein, um die Mobilität in diesem Land wieder krisenfest, zuverlässig und planbar zu machen: für die Menschen im Land, für die Unternehmen im Land, angesichts sich verschärfender Krisen und der Konsequenzen der Klimakrise.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd Riexinger, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)