Rede von Dr. Manuela Rottmann Infektionsschutz
Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir bekräftigen heute einen Verfassungsgrundsatz, eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit, und zwar leider nur per Verordnung. Sobald tiefe Grundrechtseingriffe im Einzelfall niemandem mehr nützen, müssen sie gegenüber diesen Personen sofort aufgehoben werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Situation ist nach wie vor kritisch. Die Belastung auf den Intensivstationen ist immer noch viel zu hoch. Deswegen müssen wir eine klare Sprache sprechen: Heute werden nicht etwa die Kontaktbeschränkungen für Geimpfte aufgehoben, sondern Kontaktbeschränkungen unter vollständig Geimpften, und das ist ein wesentlicher Unterschied.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU])
Wir wissen aber, dass Geimpfte selbst in den seltenen Fällen einer erneuten Infektion keine schweren Verläufe mehr durchleiden müssen. Deswegen nützt es niemandem, wenn sie sich untereinander weiterhin nicht mehr treffen dürften, auch nicht den überlasteten Beschäftigten auf den Intensivstationen, die übrigens selbst – und das freut mich –, wenn sie es wollten, zu der Gruppe derjenigen gehören, die bereits geschützt sind.
Man kann im Verfassungsrecht über vieles streiten. Darüber, dass diese Beschränkungen aufgehoben werden müssen, kann man nicht streiten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist etwa so, als ob man infrage stellen würde, dass eins und eins zwei ergibt. Die Art und Weise, wie Politikerinnen und Politiker der Koalition diese Debatte begonnen haben, war für mich einer der Tiefpunkte der letzten Monate, angefangen beim notorischen Horst Seehofer, dessen abwegige Argumentation ich hier überhaupt nicht wiederholen will. In der Weihnachtspause kam dann die Meldung: Rechtspolitiker von Union und SPD prüfen ein gesetzliches Verbot von Sonderrechten für Menschen mit Coronaimpfung. Im Januar warnte die Bundeskanzlerin vor angeblichen doppelten Privilegien für Geimpfte. Damit schürt man Neiddebatten, und das ist das Letzte, was diese Gesellschaft gerade braucht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Weder von der Bundesjustizministerin noch vom Bundesgesundheitsminister war da eine klare Ansage zu hören. Im Gegenteil: Jens Spahn hat erst mal den Ethikrat mit dieser Frage beschäftigt – als ob es da irgendetwas zu prüfen gäbe. Der Ethikrat ist gut und sinnvoll für viele Dinge, aber wenn ein Bundesminister eine verfassungsrechtlich glasklare Frage zur Disposition stellt, dann stellt sich mir eine andere Frage, nämlich die, ob er seinen verfassungsrechtlichen Kompass während der Pandemie verloren hat oder ob er je einen hatte. Eins und eins ist zwei, und damit muss man nicht den Ethikrat beschäftigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie hätten Besseres zu tun gehabt. Wir hätten mit Beginn der Impfkampagne eine einfache fälschungssichere Dokumentation haben müssen. Heute haben wir 24 Millionen Menschen, die in Deutschland geimpft sind. Wir haben diese Dokumentation immer noch nicht.
Verfassungsrecht ist das Grundgerüst des Vertrauens in dieser Gesellschaft. Es darf auch während einer Pandemie nicht beschädigt werden; denn wir brauchen dieses Vertrauen auch in der nächsten Krise.
Es ist gut, dass wir nach diesen Irrungen und Wirrungen heute den Menschen das Vertrauen zurückgeben können. Unser Land ist ein freiheitliches Land. Wir brauchen Solidarität, aber wir erwarten keine Schikanen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Wolfgang Kubicki:
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Dr. Rottmann. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johannes Fechner, SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)