Rede von Katrin Göring-Eckardt Jahresbericht zur deutschen Einheit

Foto von Katrin Göring-Eckardt MdB
19.10.2023

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die deutsche Einheit ist eben kein kostbares Geschenk der Geschichte.“ Das hat der viel zu früh verstorbene Werner Schulz 1997 in der ersten Debatte über den Stand der deutschen Einheit im Deutschen Bundestag gesagt. Er hatte recht, und er hat recht. Das heißt: Einheit fällt uns nicht in den Schoß. Wir müssen dafür arbeiten, egal wie groß die Krisen und egal wie schwer die Zeiten sind.

Nur, um welche Einheit geht es eigentlich? Wenn wir über den Stand der deutschen Einheit reden, scheint es mir manchmal so, als ob die einen denken: Die Ostdeutschen möchten doch bitte für die Einheit sorgen. – Und die anderen denken: Die Westdeutschen möchten doch bitte dafür sorgen, dass es den Ostdeutschen besser geht. – So funktioniert es aber nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es funktioniert nur, wenn wir gemeinsam schauen: Was ist eigentlich das Gute an den anderen? Natürlich sind die Ostdeutschen so eine Art Vorhut für die Umbrüche, die wir erleben und die bevorstehen. Und natürlich ist es notwendig und wichtig, nach gesellschaftlichen Veränderungen zu schauen, die längst gestaltet sind. 30 Jahre Dauerveränderung: Das stresst; aber das macht auch resilient, das macht auch stark. Es lohnt sich, da hinzuschauen, was gelungen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Noch viel gravierender aber finde ich, dass wir insgesamt in eine Art von politischer Lage abrutschen, in der mehr das Trennende betont wird. Ja, ich will Streit, das ist Freiheit und Demokratie – dafür bin ich 1989 mit anderen auf die Straße gegangen.

(Dr. Malte Kaufmann [AfD]: Dann fangen Sie mal an, uns auch die gleichen Rechte zu geben!)

Aber: Wir sind zu oft nicht mehr bei Streit. Wir sind bei Zertrennung, wir sind bei „Wir oder die“.

(Dr. Malte Kaufmann [AfD]: Das machen Sie doch!)

So werden wir die Verirrten nicht einsammeln, kein Vertrauen schaffen und auch kein Zutrauen stiften. Deswegen: Die Zeiten, die wir bewältigen müssen, die schaffen wir nur mit Vertrauen und Zutrauen. Ich sage das an uns selbst gerichtet. Ich sage das aber auch an die Union. Ich sage das als Bitte, als jemand, die zu den gar nicht so vielen am Anfang gehörte, die für die Freiheit auf die Straße gegangen sind, damit wir in Demokratie und Freiheit leben können, damit sie wehrhaft ist und wehrhaft bleibt, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Welche Einheit also? Einheit heißt nicht gleich, Einheit heißt vor allem zusammen: von West und Ost. Einheit heißt, dass wir Arm und Reich zusammendenken. Und ja, die Vermögen sind im Osten minimal. Einheit heißt Einheit von Jung und Alt, von digital und analog, von Land und Stadt, von ohne und mit Migrationsgeschichte. Es braucht vor allem die Einheit der Demokratinnen und Demokraten: hier im Haus genauso wie in jedem Ortsbeirat, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Einheit heißt auch nicht Einheitlichkeit. Nein, Mecklenburg-Vorpommern muss nicht Hessen werden.

(Beifall des Abg. Erik von Malottki [SPD])

Und Gillamoos muss nicht Kreuzberg werden, die haben ja schon den Karneval der Kulturen. Aber alle müssen miteinander reden können und voneinander wissen wollen, am besten noch voneinander lernen wollen:

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Neugier auf die Lösungen der anderen, darauf, etwas zu übernehmen, vielleicht sogar besser zu machen. Von den Ostdeutschen kann man lernen, wie sie die Dauerveränderung geschafft haben und was daraus für jetzt und für morgen, für die ganzen Umbrüche, die noch bevorstehen, folgt. Einheit, das heißt aber auch – das ist mir wichtig – Perspektivwechsel. Ja, die anderen könnten auch recht haben, was für ein Wahnsinn!

(Stephan Brandner [AfD]: Sie meinen uns, oder? – Weiterer Zuruf von der AfD: Hört! Hört!)

Oder: Die anderen leben vielleicht ganz anders als ich in meiner Bubble.

Deswegen ist für mich in diesen Zeiten extrem wichtig: Lassen Sie uns Politik vom Land her denken, von der Kleinstadt, vom Dorf, weil die Natur meist etwas näher ist und manchmal sogar auch die Vielfalt, wenn zum Beispiel der einzige Busfahrer, der noch da ist, vor vielen Jahren aus Syrien kam oder wenn so unglaublich fremde Menschen am Geburtstagstisch sitzen wie die eigene Großtante, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Werner Schulz schloss 1997 seine Rede mit einem mutigen Blick nach vorn, dem ich mich heute nur anschließen kann. Er sagte:

„Das könnten wir schaffen: dieses Deutschland gemeinsam mit Ideen, mit Phantasie und mit Schöpferkraft weiter aufzubauen.“

So ist es, meine Damen und Herren: Vereint kann Deutschland mehr, vor allem Demokratie und Freiheit und Einigkeit. Wir können das schaffen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat Dr. Christiane Schenderlein für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)