Rede von Dr. med. Paula Piechotta Jahresbericht zur deutschen Einheit

Dr. Paula Piechotta MdB
19.10.2023

Dr. Paula Piechotta (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Menschen im Land! Wenn wir in diesen Tagen nach Israel oder vielleicht auch in die USA schauen, dann sehen wir neben vielen anderen Sachen eine Gesellschaft, die nach innen gespalten ist. Die ist auch schwächer, wenn sie von außen angegriffen wird, wenn sie von außen unter Druck kommt. Deswegen ist diese Debatte hier, in der wir darum ringen, welchen Stand wir über 30 Jahre nach 1989 bei der deutschen Einheit haben, auch ein Ringen darum, wie fest und geeint und wie widerstandsfähig wir als gesamte Gesellschaft in den aktuellen Zeiten sind, in denen auch für uns die Welt wieder gefährlicher wird.

„Ost und West“ ist nicht die einzige Bruchlinie, an der die Feinde im In- und Ausland ihren Hebel ansetzen können, wenn sie dieses Land spalten wollen. Aber es ist eine ganz besondere Bruchlinie, nicht, weil nur wenige Länder auf dieser Welt solch eine Bruchlinie mit uns teilen, sondern, weil das Thema „Ost und West“ natürlich sehr drastisch deutlich macht, was eigentlich Politik als Aufgabe hat, wenn die einen Pech hatten und die anderen Glück.

Wenn wir einmal zurückschauen, so haben in den Jahren 1933 bis 1945 diejenigen Regionen, die das heutige Ostdeutschland sind, und die Regionen, die das heutige Westdeutschland sind, vergleichbare Schuld auf sich geladen. Aber die Menschen, die im heutigen Sachsen oder im heutigen Mecklenburg-Vorpommern in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts ihre letzte freie Wahl erlebt hatten, mussten nicht nur eineinhalb Jahrzehnte auf die nächste freie Wahl warten, sondern deutlich länger. Und wenn sie nicht zwischendurch ausgewandert sind wie Millionen von Menschen, wenn sie nicht zwischendurch ausgewiesen wurden wie viele Menschen, so warten sie bis heute auf die Angleichung der Vermögensverhältnisse.

Jetzt haben viele auf die letzten 30 Jahre geschaut, gerade auch bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Die wirtschaftliche Entwicklung ist elementar verbunden mit der Frage, wie die Vermögensverhältnisse im Land sind. Aber wenn wir ehrlich sind, geht es nicht nur um die jahrzehntelange Misswirtschaft der DDR, die erklärt, warum die Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschland heute so ist, wie sie ist. Es geht auch nicht nur um die Fehler der 90er-Jahre, sondern es geht natürlich auch um die Zeit nach 1945. Wir hatten allein in Sachsen mehr demontierte Betriebe als in allen Westbesatzungszonen zusammen. Es war auch die Furcht vor Enteignung und die Furcht vor Demontage, die dazu geführt hat, dass Unternehmen wie Teekanne oder Odol oder Schering oder verschiedenste Siemens-Werke aus Ostdeutschland nach Bayern, nach NRW und nach Baden-Württemberg gegangen sind. Ich darf als Leipzigerin sagen: Gegangen sind auch Reclam und Brockhaus. Natürlich fehlen diese Unternehmen bis heute. Deswegen ist es so wichtig, dass Jahrzehnte später jetzt diese riesigen Investitionen zurückkommen. Damit kommen auch Menschen zurück, damit kommt auch wirtschaftlicher Wohlstand zurück. So werden wir diese extrem hartnäckige Vermögensfrage bearbeiten können, wo man angesichts der Tatsache, dass überhaupt nicht absehbar ist, wie wir die Vermögensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland auch politisch angleichen können, wirklich verzweifeln kann. Wir können ja nicht verlangen, dass nur noch Ostdeutsche Westdeutsche heiraten, auch wenn das wahrscheinlich die realistischste Version wäre.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vor diesem Hintergrund ist es doch besonders wichtig, dass wir jetzt an der Stelle darauf schauen, wie wir da besser werden.

Aber zur Wahrheit gehört auch: –

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss bitte.

Dr. Paula Piechotta (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

– Die Demokratie legitimiert sich auch dadurch, dass sie mehr Fairness in einer unfairen Welt schaffen kann als Diktaturen und Autokratien.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.

Dr. Paula Piechotta (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Vor dem Hintergrund ringen wir weiter auch um die Frage der Vermögensgleichheit.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Danke schön. – Nächster Redner ist der Kollege Mario Czaja, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)