Foto von Cem Özdemir MdB
Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion / Kaminski
09.11.2023

Cem Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Friedländer! Lieber Herr Schuster! Lieber Herr Botschafter Prosor! Meine Damen! Meine Herren! Ein ehrlich gemeinter Kampf gegen Antisemitismus verträgt parteipolitische Rituale nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Er kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir parteiübergreifend zusammenstehen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Daraus folgt, dass der selektive Blick auf die Realität des Antisemitismus aufhören muss:

Wenn Antisemitismus von links kommt, heißt es, das sei keiner, sondern sogenannter antikolonialer Befreiungskampf. Es ist verstörend, dass manche Linke angesichts des Terrors der Hamas daran scheitern, einfach Menschlichkeit zu zeigen – oder überhaupt anzuerkennen, dass es sich um Terrorismus handelt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)

Wenn Antisemitismus von Muslimen ausgeht, dann heißt es ritualmäßig, das habe nichts mit dem Islam zu tun. Dabei zeigen Studien, dass Antisemitismus unter Muslimen leider alles andere als ein Randphänomen ist.

Von konservativer Seite wird gelegentlich ausschließlich über den eingewanderten Antisemitismus gesprochen, als gäbe es im rechten Spektrum keinen – was offensichtlich absurd ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Als Kind habe ich neben der deutschen Schule an manchen Nachmittagen auch eine türkische Schule besucht und habe erlebt, wie unterschiedlich man mit Vergangenheit umgehen kann. Nachmittags habe ich erfahren, wie glorreich die Vergangenheit der türkischen Vorfahren angeblich war; vormittags habe ich gelernt, dass die deutschen Vorfahren während des Nationalsozialismus die schlimmsten Verbrechen begangen haben. Nachmittags gab es vom Lehrer eine Kopfnuss, wenn ich kritische Fragen gestellt habe. Dagegen hat mich der offene, auch schmerzhafte Umgang mit der eigenen Geschichte zutiefst beeindruckt und mich als Migrant auch in meinem Deutschsein maßgeblich geprägt. Kein Kind, egal welcher Herkunft, wird als Antisemit geboren, wir, die Gesellschaft, machen es dazu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der AfD)

Deshalb müssen wir uns – auch hier parteiübergreifend – immer wieder selbstkritisch fragen, ob wir die konsequente Erziehung zu Demokratie in unseren Bildungseinrichtungen ernst genug nehmen. Denn auch hier entscheidet sich, ob wir unserer Verantwortung für den Schutz von Jüdinnen und Juden gerecht werden. Der Ruf nach mehr Bildung kommt uns leicht von den Lippen. Wer ist schon gegen Bildung? Aber dieser Appell darf eben nicht zu einem folgenlosen und wohlfeilen Ritual verkommen – hier geht es um das Wertefundament, auf dem unser Land steht, hier geht es um die Frage, wer wir sein wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Im Idealfall geschieht die Vermittlung der Werte mit der Familie, im Ernstfall – und den haben wir jetzt gerade – gegen ein Milieu, in dem Antisemitismus und Judenhass quasi zur Normalität gehören. Das bedeutet übrigens auch, dass künftig nicht mehr das jüdische Kind die Schule wechseln muss, sondern diejenigen, die es antisemitisch drangsalieren und schikanieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der AfD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn jüdische Kinder aus Angst nicht zur Schule gehen, dann ist das nicht einfach nur die Angelegenheit ihrer Eltern – dann ist das unsere Angelegenheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin es auch leid, dass stets jüdische Organisationen zu Protesten gegen Antisemitismus aufrufen müssen. Es ist vornehmste republikanische Pflicht eines jeden Bürgers dieses Landes, von uns allen, uns dem antisemitischen Hass entgegenzustellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Zu den gemeinsamen Konsequenzen sollte auch eine Überprüfung des Verhältnisses zu den muslimischen Dachverbänden gehören. Erst nach Aufforderung Antisemitismus auf Deutsch zu verurteilen, um danach auf Türkisch und Arabisch das Gegenteil zu sagen, dürfen wir künftig nirgendwo mehr durchgehen lassen. Auch das wäre praktizierte deutsche Staatsräson.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der AfD)

Es ist manchmal mühsam, hierzulande seinen Weg als Mensch mit Migrationsgeschichte zu gehen. Aber mein Beispiel und das Beispiel von Kollegen und Kolleginnen hier zeigt doch: Dieses Land ist Heimat von Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen, Religionen, Weltanschauungen. Wer sich anstrengt, manchmal Widerstände überwindet, kann sich hier einbringen. Deshalb ist mein Appell an die Jugendlichen, die mit den Menschen in Gaza leiden und dafür kämpfen, dass vielleicht auch die Palästinenser eines Tages ein eigenes Land haben: Lasst euch nicht vor den Karren von Hamas, Islamic Jihad, Hisbollah, Hisb ut-Tahrir und anderen Terrororganisationen spannen! Glaubt nicht denen, die euch sagen, dass es die Juden sind, die Schuld tragen am Leid der Menschen in Gaza! Es ist die Hamas, die die Menschen dort aus Feigheit in Geiselhaft nimmt

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der AfD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

und ihr Leid geradezu braucht, um euch als nützliche Idioten zu missbrauchen. Es gibt Frieden und Freiheit für die Palästinenser nur mit dem Staat Israel, niemals gegen ihn.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)

Wer über die Nakba, die Vertreibung der Araber, spricht, darf nicht über die Vertreibung von Juden aus arabischen und muslimischen Ländern schweigen. Die israelische Regierung darf man selbstverständlich kritisieren. Was dagegen nicht geht, ist, Sympathien für die Terroristen der Hamas zu zeigen, sich über tote Juden zu freuen, die Geiseln zu verhöhnen, gegenüber unseren Polizisten, Lehrern, Vertretern unseres Landes Respektlosigkeit zu zeigen. Wer damit ein Problem hat, muss künftig ein Problem haben – so muss es künftig laufen.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD und der Abg. Anke Domscheit-Berg [DIE LINKE])

Präsidentin Bärbel Bas:

Als Nächste hat das Wort für die AfD-Fraktion Beatrix von Storch.

(Beifall bei der AfD)