Rede von Lisa Paus Kindergrundsicherung

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09.11.2023

Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauende! Jüngst, in der vergangenen Woche, hat der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, noch einmal eindrücklich in einem Artikel beschrieben, wie Armut auf unsere Gesellschaft wirkt, wie ein Diskurs wirkt, der Armut als selbstverschuldet darstellt, der Bürgergeldbezieher/-innen als faule Arbeitslose tituliert. Er schreibt: Dieses Narrativ untergräbt die „Basis unseres Zusammenlebens“, und es untergräbt unsere soziale Marktwirtschaft. – Ich teile diese Einschätzung, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Studien belegen: Als Kind in Armut aufzuwachsen, das hat gravierende Folgen: fürs Selbstbewusstsein, für die Gesundheit, für den Bildungserfolg. Kinder entwickeln ein Selbstbild, das da lautet: Ich habe ja nichts, ich bin nichts, also kann ich auch nichts. – Das ist unwürdig. Es ist unwürdig für unser Land, dass wir so eine Situation haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Martin Gassner-Herz [FDP])

Deshalb bringt die Ampel heute das Gesetz zur Kindergrundsicherung hier in den Deutschen Bundestag ein. Es ist der Einstieg in die Bekämpfung der strukturell verfestigten Kinderarmut in Deutschland.

(Marc Henrichmann [CDU/CSU]: Ogottogott!)

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung schreibt in seinem aktuellen Gutachten, gestern vorgestellt:

„Die geplante Kindergrundsicherung kann dafür sorgen,“

(Silvia Breher [CDU/CSU]: Macht sie aber nicht!)

„dass mehr Anspruchsberechtige die ihnen zustehenden Transferleistungen tatsächlich in Anspruch nehmen. Dies würde zur Senkung der Armutsgefährdung bei Kindern beitragen.“

Und das ist wichtig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Martin Gassner-Herz [FDP])

Diese Einschätzung des höchsten Expertengremiums sollte uns allen Ansporn und Unterstützung sein.

Die Kindergrundsicherung ist ein wirklicher Systemwechsel. Wir führen alle wesentlichen kindbezogenen Leistungen zusammen, die Familien zustehen. Sie werden künftig über eine einzige Stelle berechnet, über den neuen Familienservice, zu dem die Familienkassen umgebaut werden. Er prüft mit dem Kindergrundsicherungs-Check, wer Anspruch hat. Er informiert die Familien proaktiv und bietet Beratung und Unterstützung an. Er zahlt den Kindergarantiebetrag – vormals Kindergeld – aus, gegebenenfalls plus Kinderzusatzbetrag – je nach Einkommen der Eltern und Alter der Kinder.

Durch Anpassung an die Inflation und Neudefinition des Existenzminimums wird ein fünfjähriges Kind im Bürgergeld im Jahr 2025 voraussichtlich mindestens 31 Euro im Monat mehr haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liegt die Inflation 2025 wieder bei 3 Prozent, ergäben sich mindestens 532 Euro für die kleinsten und bis zu 638 Euro für die ältesten Kinder. Das ist eine ganz wichtige Investition in die Chancengerechtigkeit in Deutschland.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch die Situation von Alleinerziehenden verbessert sich: Sie werden zukünftig mehr als die Hälfte des Unterhaltsvorschusses behalten dürfen,

(Silvia Breher [CDU/CSU]: Aber nicht alle!)

sofern sie selbst mindestens 600 Euro verdienen und das Kind unter sieben Jahre alt ist. Derzeit wird das vollständig mit dem Bürgergeld verrechnet.

(Heidi Reichinnek [DIE LINKE]: Ja, toll!)

Unsere Kindergrundsicherung ist so konzipiert, dass weniger Geld fließt, je höher das Erwerbseinkommen ist – aber genau so, dass sich Arbeit immer lohnt. Das heißt, die Kindergrundsicherung baut auch eine zentrale Brücke von Transferleistungen in die Erwerbstätigkeit. Auch deswegen ist sie so richtig und wichtig und sinnvoll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es geht um Chancengerechtigkeit für jedes Kind in Deutschland. Aber es ist auch ökonomisch vernünftig, diese Kindergrundsicherung einzuführen. Die OECD rechnet uns vor, dass Kinderarmut jährlich etwa 3,4 Prozent des Bruttoinlandproduktes kostet. Wir brauchen Fachkräfte, und wir können auf keinen Jugendlichen verzichten, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Martin Gassner-Herz [FDP])

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen hier, aber auch in den Ländern, auch im Bundesrat: Bitte unterstützen Sie die Einführung der Kindergrundsicherung, den Systemwechsel von der Holschuld des Bürgers zur Bringschuld des Staates.

(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Stimmt auch nicht: Bringschuld/Holschuld!)

Die Kindergrundsicherung ist nicht einfach irgendeine zusätzliche soziale Wohltat, sondern sie ist eine notwendige und zentral wichtige Investition in die Zukunft unseres Landes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Martin Gassner-Herz [FDP])

Jedes einzelne Kind sollte in Deutschland darauf vertrauen können: Ich habe etwas, ich kann etwas, ich bin etwas, ich habe eine Zukunft in diesem Land.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Zuruf des Abg. Christoph de Vries [CDU/CSU])

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Die nächste Rednerin ist Silvia Breher für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)