Rede von Annalena Baerbock Kitagesetz und Teilhabe

14.12.2018

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, wir beraten heute abschließend über ein Gesetz, das im Titel „Qualität“ trägt, Qualität aber nur noch in homöopathischen Dosen verabreicht. Das ist nicht nur enttäuschend für dieses Hohe Haus, das ist nicht nur enttäuschend nach der Fachanhörung, die etliche Kolleginnen und Kollegen hier schon angesprochen haben, wo sich alle Expertinnen und Experten dahin gehend geäußert haben, dass man diesem Gesetz nicht zustimmen kann, weil keine Qualität mehr drinsteckt. Das Schlimmste daran ist, dass es ein Schlag ins Gesicht für 3,1 Millionen Kinder in Krippen und Kitas in diesem Land ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sönke Rix [SPD]: Was ist das für eine Wortwahl?)

– Ja, das ist eine harte Wortwahl, und die harte Wortwahl wird jetzt weitergehen.

Sie, liebe SPD, haben dieses Gesetz groß angekündigt. Familienministerin Schwesig hat gesagt: Wir brauchen ein Kitaqualitätsgesetz. Sie haben mit den Ländern gemeinsam Qualitätsstandards vereinbart. Frau Barley hat als Nachfolgerin gesagt – ich zitiere –: „Ich werde mich für mehr Qualität in der Kindertagesbetreuung einsetzen.“ Wir hatten dazu dann eine Fachanhörung, in der von allen Expertinnen und Experten deutlich gemacht wurde – auch von denjenigen, die Sie eingeladen haben –, dass der Fachkraft-Kind-Schlüssel entscheidend für Qualität ist. Und der gehört verbindlich in ein Gesetz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Schön hat noch einmal sehr schön vorgetragen, was es bedeutet, einen vernünftigen Schlüssel zu haben: dass sich Erzieherinnen und Erzieher auch um die Kinder kümmern können. Das bedeutet, dass der Schlüssel für unter Dreijährige so sein muss: eine Erzieherin auf vier Kinder. Bei über Dreijährigen bedeutet dieser Schlüssel, dass eine Erzieherin auf neun Kinder kommt. Das ist in Deutschland nicht der Fall. Und das ist vor allen Dingen an den Orten nicht der Fall, wo vor allem sozial schwache Familien leben. Diese Familien haben große Hoffnungen in dieses Gesetz gesetzt, liebe SPD. Deswegen können Sie hier vor Empörung so laut schreien,

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Es schreit doch überhaupt keiner!)

wie Sie wollen: Sie enttäuschen diese Familien, weil Sie diesen Schlüssel nicht rechtsverbindlich ins Gesetz schreiben.

Das ist Ihre Verantwortung als Ministerin, liebe Frau Giffey.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben 5,5 Milliarden Euro zu verantworten, die Sie nicht an die Kinder auszahlen. Man muss sich schon die Frage stellen, ob es eine Korrelation gibt. Mit jedem Punkt, den die SPD in Umfragen verloren hat, ist mehr Qualität aus diesem Gesetz geflogen. Stattdessen hat man die Beitragsfreiheit immer mehr in dieses Gesetz hineingenommen, und zwar als pauschale Beitragsfreiheit.

Was bedeutet das? Das bedeutet, dass der Punkt, vor allem Familien mit schwachem Einkommen entlasten zu wollen, in diesem Gesetz eigentlich gar keine Rolle mehr spielt.

(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Natürlich! Die Geringverdiener zahlen keine Beiträge mehr!)

Das wird daran deutlich, dass Sie in allerletzter Minute – das wurde von Ihnen eben ja sogar gesagt – die soziale Staffelung bei der Beitragsfreiheit als verbindliche Vorgabe herausgenommen haben. Das ist zutiefst sozial ungerecht, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Ich sage das an dieser Stelle so hart, weil das nicht nur mich als Abgeordnete betrifft, weil das nicht nur uns als Parlamentarier betrifft, die wir das hier zu verantworten haben,

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: In wie vielen Ländern regieren die Grünen eigentlich mit? Ist das eine Landesaufgabe, oder nicht? Was machen Sie denn da? Schlanker Fuß!)

sondern weil wir Hunderte, Tausende von E‑Mails und anderen Rückmeldungen bekommen haben, gerade aus den Kitas, gerade von den Fachkräften, die verzweifelt darum gerungen haben, dass sie an dieser Stelle endlich mehr Qualität in die Kitas bekommen. Und ich sage das so hart, weil Sie genau wissen, was Sie tun. Das ist ja das Schlimme. Sie wissen genau, dass mit einer pauschalen Beitragsfreiheit eben nicht eine soziale Entlastung einhergeht. Sie wissen genau, was Sie tun; denn Geringverdiener in ganz vielen Bundesländern und Kommunen sind schon freigestellt. Sie wissen genau, dass Sie mit der Beitragsfreiheit am Ende dafür sorgen, dass dies ein Gesetz für Gutverdiener wird. Das ist das Schlimme an der Einführung einer pauschalen Beitragsfreiheit mit diesem Gesetz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Giffey, Sie sagen, Sie würden Qualitätsstandards gerne einführen, Sie hätten das gerne in das Gesetz genommen, aber die Zeit sei noch nicht reif dafür. Was ist das denn für ein Verständnis von Regierungsverantwortung?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Was ist das denn für eine Haltung als Ministerin, zu sagen: „Eigentlich weiß ich, was richtig ist, eigentlich weiß ich, hier müssen Qualitätsstandards her, aber die Zeit ist noch nicht reif; wir warten einfach mal ab“?

Irgendwann sind die Kinder aus der Kita raus. Das bedeutet, dass man sich jetzt um die Kinder, um die man sich besonders kümmern muss, die morgens getröstet werden müssen, die eine Ansprache brauchen, zu denen man auch mal hingehen muss, für die man als Erzieherin oder als Erzieher auch mal Zeit braucht, weil sie immer still in der Ecke sitzen – Sie wissen das aufgrund Ihrer Erfahrung ja ganz genau –, nicht so gut kümmern kann. Das bedeutet, dass für die Kinder, die jetzt in der Kita sind, das Thema durch ist.

Das bedeutet noch eines; das möchte ich mit Blick auf die Fachkraftoffensive unterstreichen. Die Erzieherinnen und Erzieher sind diejenigen, die gesagt haben: Wir brauchen einen guten Fachkraft-Kind-Schlüssel, damit wir unsere Arbeit gut machen können. – Warum finden wir keine Erzieherinnen und Erzieher mehr? Weil viele nach ein paar Jahren sagen: Ich bin ausgebrannt, ich gehe aus diesem Job raus, ich habe keine Zeit für Planung, ich habe keine Zeit für Elterngespräche. – Das kennen wir doch alles aus der Pflege. Wir dürfen doch diesen Fehler nicht noch einmal machen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen dieses Geld vor allen Dingen im Sinne der 600 000 Erzieherinnen und Erzieher einsetzen. Die brauchen einen verbindlichen Fachkraft-Kind-Schlüssel, und sie brauchen eine Entfristung. Ich hoffe sehr, dass das im Bundesrat jetzt durchkommt. Diese Forderungen stehen auch in unserem Änderungsantrag. Es kommt nicht oft vor, dass Linke und Grüne einen gemeinsamen Änderungsantrag – und die FDP einen entsprechenden Entschließungsantrag – einbringen.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wohl wahr!)

Es geht um einen verbindlichen Fachkraft-Kind-Schlüssel und eine Entfristung der Gelder. Wer stellt denn zusätzlich Erzieherinnen und Erzieher ein, wenn er sagen muss: „In fünf Jahren ist das Geld nicht mehr da, weil das Geld nur bis 2022 eingestellt ist“?

(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Die Länder!)

Sie können da nicht sagen: Ich gebe Ihnen mein Wort, danach wird das weiterfinanziert. – Es kommt darauf an, dass dieses Geld im Bundeshaushalt eingestellt wird und endlich entfristet wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Kollegin Baerbock, achten Sie bitte darauf, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Ja, das waren deutliche Worte. Ja, das ist etwas, was man hier zur Sprache bringen muss, weil wir jetzt über diesen Gesetzentwurf abstimmen. Wir stimmen jetzt darüber ab, ob 5,5 Milliarden Euro zum Wohle der Kinder in diesem Land und zum Wohle der Erzieherinnen und Erzieher eingesetzt werden oder ob sie mit der Gießkanne verteilt werden, was wir verhindern wollen. Geben Sie sich einen Ruck, und stimmen Sie den Anträgen der demokratischen Opposition heute hier im Hohen Haus zu.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)