Rede von Annalena Baerbock Kohleausstiegsgesetz

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03.07.2020

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sie hätten die Chance gehabt, heute hier etwas wirklich Historisches zu schaffen – etwas Historisches für die gesamte Gesellschaft. Einige von Ihnen wollten das nicht; nein.

(Dr. Alice Weidel [AfD]: Nein!)

Es wäre etwas Historisches gewesen, etwas, das Hunderttausende Menschen auf der Straße erstritten haben. Deswegen ist dieser Tag ein Tag, der uns alle bewegt – nicht nur Sie, lieber Matthias Miersch. Es wäre die Gelegenheit gewesen, die Klimakrise mit der gleichen Verve und Entschlossenheit zu bekämpfen wie die Coronakrise. Aber das machen Sie nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Stattdessen legen Sie de facto ein 18 Jahre langes finanzielles Kohleabsicherungsgesetz heute hier vor.

(Zuruf von der SPD: Das ist Orwell’scher Sprech!)

Wissen Sie was? Das liegt daran, dass Sie nicht erkannt haben, dass sich in den anderthalb Jahren seit dem Bericht der Kohlekommission die Welt weitergedreht hat. Der Markt für die Kohle ist regelrecht zusammengebrochen. Sie hätten in diesem Lichte die Chance gehabt, klimapolitisch das Notwendige zu tun, bis 2030 auszusteigen. Aber Sie haben diesen Kompromiss, der zwischen den Gewerkschaften, den Umweltverbänden, den Industrievertretern und den Wissenschaftlern gefunden wurde, einseitig aufgehoben.

(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Unsinn!)

Das ist es, was wir heute hier klar und deutlich kritisieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wissen Sie, was Sie damit tun? Sie verhindern damit, den Kern dieses ganzen Kompromisses möglich zu machen. Er wurde gefunden, indem da was eingebaut war, nämlich dass man immer wieder, im Lichte der Klimapolitik, den Ausstieg überprüfen kann.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Kollegin Baerbock, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der SPD?

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Herr Kollege. – Ich konnte Sie mit der Gesichtsmaske nicht erkennen.

Klaus Mindrup (SPD):

Liebe Kollegin Baerbock, wir beide waren als Bundestagsabgeordnete in Paris, als das historische Klimaabkommen beschlossen wurde. Deswegen wissen Sie genauso wie ich, dass nicht nur die Bundesrepublik, sondern vor allen Dingen die Europäische Union Vertragspartner des Paris-Abkommens ist und dass unsere Klimaziele in Deutschland, was die Kraftwerke, den Flugverkehr und die Industrie angeht, europäisch geregelt sind und dass die große Schwierigkeit war: Wie kriegen wir die nationale Politik und die europäische Politik zusammen? Sie wissen ferner, dass der Schlüssel, um von einer reinen Symbolpolitik wegzukommen, die Löschung der Zertifikate der Kohlekraftwerke ist, sodass wirklich weniger emittiert wird und es keine Verschiebung in andere Länder gibt, liebe Kollegin. Das ist der entscheidende Punkt: Wir reduzieren jetzt an dieser Stelle wirklich die Emissionen. In den Verträgen steht auch drin, dass wir das weiter tun können. Das ignorieren Sie.

Sie sagen weiterhin, dass wir die Ergebnisse der Kohlekommission nicht umsetzen; deswegen würden Sie dem nicht zustimmen. Die Kohlekommission hat gesagt: 2038 oder 2035. Jetzt sagen Sie: 2030. Die Kohlekommission hat gesagt: vertragliche Lösungen. Sie haben heute Morgen im Radio gesagt: Ordnungsrecht.

Und dann sagen Sie, Sie stimmen hier dem Kohleausstieg nicht zu; aber Sie wollen dem Strukturfördergesetz zustimmen. Das heißt, was Sie gerade machen, ist politisches Rosinenpicken.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Herr Kollege.

Klaus Mindrup (SPD):

Sie picken politisch Rosinen. Ich finde das unverantwortlich, was Sie hier gerade machen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Frau Baerbock, Ihre Redezeit ist immer noch angehalten. Sie dürfen die Frage beantworten. Das wird nicht auf die Redezeit angerechnet. Aber irgendwann müssen wir wieder in die vorgesehene Redezeit kommen. – Und Zwischenfragen sollten kurz sein; das war an der Grenze.

Frau Kollegin Baerbock, jetzt haben Sie das Wort.

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Da die Frage sehr lang war und wir beide Experten in diesem Bereich sind, gehe ich auf ein paar Punkte ein. Ich hätte Ihnen einige Details in meiner Rede gerne erspart; aber wenn Sie jetzt schon so anfangen, gehe ich auf ein paar Punkte ein, die Sie herausgegriffen haben.

Es macht halt einen großen Unterschied, ob man groß etwas obendrüber schreibt und dann Hebel einbaut, die das Ganze konterkarieren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Miersch [SPD]: Welche denn?)

– Matthias Miersch, also: Wollt ihr jetzt eine Antwort hören, oder nicht? Ja? – Dann bitte zuhören!

(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Aber welche Hebel?)

Ich weiß, was im Pariser Klimavertrag drinsteht, in Artikel 4 Absatz 9: Alle fünf Jahre wird überprüft, ob die Klimaziele dem Pariser Klimavertrag entsprechen. – Um das eins zu eins umzusetzen – und dabei hat nicht nur die EU eine Verantwortung, sondern jedes einzelne Land; das nennt man „Burden Sharing“; ich kenne mich in diesen Verträgen auch aus –, bedeutet das, dass wir regelmäßig überprüfen müssen, wann wir das tun können. Unglücklicherweise streicht ihr – das hast du, lieber Matthias Miersch, als du die Revisionsklauseln für 2026 und 2029 genannt hast, leider vergessen zu sagen – mit diesem Gesetz die Revisionsklausel für 2023. Es ist problematisch, 2026 zu überprüfen, was wir in Deutschland tun, wenn ihr uns nicht die Möglichkeit gebt, unsere Kohlestrommenge 2023 zu reduzieren. Genau das ist unser Kritikpunkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben das Gesetz an den entscheidenden Stellen so aufgeweicht, dass Sie damit zukünftigen Regierungen Steine in den Weg legen – ja, das kann man auch als Ehre nehmen; aber ich stehe hier als Klimapolitikerin –, wenn es darum geht, das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Und da ist die Revisionsklausel nur ein Punkt; das ist ja das Problem.

Das Problem ist auch: Wenn man sich eben nicht so auskennt wie Sie und ich, dann sieht man das gar nicht. Deswegen müssen wir in die Details dieses Gesetzes schauen. Ja, deswegen picken wir uns die Stellen dieses Gesetzes raus, die richtig problematisch sind.

Meinen Sie etwa, mir fällt das heute leicht, einfach so zu sagen: „Ich stimme gegen ein Kohleausstiegsgesetz“? Ich habe mich, seitdem ich im Bundestag bin, seit 2013, an diesem Pult beschimpfen lassen, wie verrückt wir sind, dass wir das Wort „Kohleausstieg“ überhaupt in den Mund nehmen. Jetzt wäre der Tag gekommen, an dem wir hier gemeinsam ein Kohleausstiegsgesetz für die Zukunft beschließen könnten; aber leider machen Sie es nicht möglich, dem zuzustimmen, weil es zukunftsvergessen ist, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Und jetzt läuft die Redezeit weiter.

Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Da sind noch ein paar andere Dinge drin, die man nicht auf den ersten Blick sieht, neben der Revisionsklausel für 2023, die gestrichen wird: Das ist die energiepolitische Notwendigkeit für Garzweiler. Damit schreiben Sie mit diesem Gesetz den Tagebau Garzweiler fest und machen es in Zukunft wahnsinnig schwierig, einfach zu sagen: Wir beenden das früher.

Das Gleiche passiert mit Datteln 4. Auch da weichen Sie, wenn auch nur mit einem Halbsatz, von dem Beschluss der Kohlekommission ab. Dort steht: Kein neues Kohlekraftwerk. – Sie haben leider, Herr Altmaier, anderthalb Jahre gebraucht, um dieses Gesetz zu formulieren, und haben in dieser Zeit Datteln 4 ans Netz gehen lassen. Das ist ein Bruch mit dem Beschluss der Kohlekommission, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich möchte, lieber Matthias Miersch, auf das eingehen, was du gesagt hast. Du hast gesagt: Bei der Zeitspanne erfüllen wir die Kriterien des Abschaltens genau. – Dazu sage ich zum einen, weil du uns ja so nebenbei mal einen mitgeben willst: Hätten wir 2017  7 Gigawatt abgeschaltet, dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter in dieser Republik; aber das hat leider die FDP verhindert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum anderen: Die Kanzlerin war in ihrer Antwort auf die Frage meines Kollegen Krischer da einfach ehrlicher. Sie hat zumindest zugegeben, dass wir in den 20-ern so einen kleinen Hänger haben. Auch da weicht dieses Kohleausstiegsgesetz entscheidend von dem Kohlekompromiss ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der letzte Punkt betrifft die öffentlich-rechtlichen Verträge. Wir fragen uns, warum 4,3 Milliarden Euro an die Konzerne gezahlt werden. Liebe FDP, ich kenne die Lausitz sehr genau, ich kenne auch diesen Konzern dort vor Ort sehr genau.

(Zuruf des Abg. Christian Dürr [FDP])

Ich weiß auch, was die 2017 im Revierkonzept an Abschaltungen schon angemeldet haben. Dass wir diese angemeldeten Abschaltungen jetzt auch noch finanziell entschädigen, das sollte Sie beschäftigen, wo Sie an dieser Stelle auf die Steuergelder schauen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Unsäglich ist das! Da können wir gleich die Milliarden nach Zypern überweisen!)

Es macht es auch nicht besser, dass Sie auch noch Ernst & Young beauftragt haben, einen Wirtschaftsprüferbericht vorzulegen, weil Sie selber nicht so sicher sind, ob die Milliarden richtig sind. Dieser wurde gestern vorgelegt. Und was steht da drin? Ja, die Summe stimmt schon, wenn wir berücksichtigen, was die Absichten des Kohlekonzerns waren, wenn wir berücksichtigen, was die noch machen wollten. Aber wir entschädigen doch nicht das, was die Konzerne an Kohle noch zu verstromen beabsichtigten, sondern das, was genehmigt ist. Das heißt, Ihr eigener Bericht unterstreicht noch, dass das absolut unverhältnismäßig ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Zum Schluss. Es trifft mich ins Mark, dass ich diesem Kohleausstiegsgesetz heute nicht zustimmen kann. Hier wurde gesagt: Aber dem Strukturstärkungsgesetz stimmt ihr zu. – Ja, das tun wir, weil wir nicht zulassen, dass durch dieses Kohleausstiegsgesetz, das den zukünftigen Generationen leider nicht gerecht wird, jetzt auch noch die Beschäftigten bestraft werden. Wir stimmen sehr bewusst hier und heute dem Strukturstärkungsgesetz und dem APG zu. Das halten wir mit Blick auf die Beschäftigten für richtig. Denn Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit sind keine Gegensätze.

(Zuruf von der SPD: Das passt aber nicht, wenn man 7 Gigawatt auf einmal abschaltet!)

Für den Klimaschutz werden wir als Bündnis /Die Grünen weiter kämpfen.

Herzlichen Dank. Schade, dass wir heute nicht gemeinsam hier feiern können.

(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)