Foto von Wolfgang Strengmann-Kuhn MdB
19.01.2024

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einmal kurz durchatmen, einmal besinnen und dann wieder zurück zum Thema. – Zu den Problemen, die die Kommunen haben, eine wichtige Vorbemerkung: Die Probleme, die die Kommunen haben, haben vor allem eine Ursache. Das ist der Krieg von Wladimir Putin gegen die Ukraine

(Dr. Rainer Kraft [AfD]: Und deswegen kommen Bangladeschis zu uns?)

– Wladimir Putin ist bekanntermaßen AfD-Freund –, der dazu geführt hat, dass über 1 Million Menschen bei uns aufgenommen wurden,

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Das ist nicht das Problem der Kommunen, weil die Ukrainer gar nicht in die Flüchtlingsunterkünfte kommen, sondern in eine Wohnung mit SBG II! Wissen Sie überhaupt, wovon Sie reden?)

und zwar richtigerweise so, dass sie direkt Zugang zum Arbeitsmarkt und Unterstützung durch die Arbeitsmarktinstrumente haben. Wir würden uns das für alle Geflüchteten wünschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

350 000 sind zusätzlich zu uns gekommen. Das klingt erst einmal viel, aber – ich will die Größenordnung deutlich machen – wir sind ja auch ein großes Land. Wir haben 736 Abgeordnete. Wenn man das umrechnet, würde das bedeuten, dass hier drei Menschen zusätzlich säßen. Und das sollen wir nicht schaffen? Doch, das schaffen wir.

(Albrecht Glaser [AfD]: Das ist eine Großstadt! Die muss man erst mal bauen!)

Wir dürfen nicht vergessen: Wir brauchen Zuwanderung. Wissenschaftliche Institute sprechen von 400 000 Menschen jedes Jahr. Darauf müssen wir die Gesellschaft und die Politik vorbereiten. Wir müssen also ohnehin die entsprechende Infrastruktur ausbauen – Wohnungen, Schulen, Kinderbetreuung.

(Lachen des Abg. Stephan Stracke [CDU/CSU] – Stephan Stracke [CDU/CSU]: Das ist ja der Wahnsinn! Das ist ja der Hammer!)

Wir brauchen gezielte Zuwanderung, und dafür haben wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz gemacht. Aber wir wären doch mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn wir nicht auch das Potenzial der Menschen, die aus humanitären Gründen zu uns kommen, nutzten und dafür sorgten, dass sie aus- und weitergebildet werden und Teil unserer Gesellschaft werden. Das wäre die Hauptaufgabe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Matthias W. Birkwald [fraktionslos])

Und weil wir Zuwanderung brauchen, brauchen wir eine Willkommenskultur. Anträge wie die der Union und der AfD sind das Gegenteil davon und schüren eine ausländerfeindliche Stimmung insgesamt gegen Zuwanderung. Damit schrecken Sie diejenigen ab, die wir hier dringend brauchen. Und letztlich schaden Sie damit sogar unserer Wirtschaft.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Kleinwächter [AfD]: Die, die in ihre Heimatländer zurückgehen, sind die, die vor unserer Wirtschaft davonlaufen!)

Wirtschaftskompetenz geht anders. Bei der AfD erwarten wir nichts anderes, aber bei der Union habe ich noch Hoffnung.

Das Gleiche gilt auch für die Verfassung. Wir haben in den letzten Wochen gemerkt, wer hier die Verfassungsfeinde sind.

(Albrecht Glaser [AfD]: Das haben Sie überhaupt nicht gemerkt! Was Sie reden, ist propagandistisch und lügnerisch!)

Mit Blick auf die AfD ist das nicht verwunderlich. Allerdings dachte ich, dass die CDU/CSU mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Verfassung steht. Ich möchte über die Verfassung reden.

(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Na, jetzt wird es aber interessant!)

Ich zitiere aus dem Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010:

(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Ja, gehen Sie mal vors Bundesverfassungsgericht!)

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG“

(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Sie kriegen hier ein Urteil nach dem anderen um die Ohren gehauen vom Verfassungsgericht!)

„sichert jedem Hilfsbedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“

Zur Erinnerung, Artikel 20 Absatz 1 lautet: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die Würde des Menschen, nicht die Würde des Deutschen! Die Würde des Menschen – aller Menschen – ist unantastbar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [fraktionslos])

Im Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz von 2012 wird das noch einmal vom Bundesverfassungsgericht verdeutlicht:

„Art. 1 Abs. 1 … in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip … garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums …“

Das kennen wir schon. – Weiter heißt es:

„Art. 1 … begründet diesen Anspruch als Menschenrecht.“

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Nicht bei Erschleichung!)

„Er umfasst sowohl die physische Existenz als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.“

So das Bundesverfassungsgericht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Ja! Wo liegt das Problem?)

Wir Grünen fordern deshalb die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes

(Lachen des Abg. Stephan Stracke [CDU/CSU] – Stephan Stracke [CDU/CSU]: Na super! Es wird ja immer besser!)

und auch den besseren Zugang für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger zum Bürgergeld.

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Da haben Sie das Bundesverfassungsgericht gänzlich falsch verstanden! – Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Das ist Verfassungsrecht-Schmalspur!)

Denn die Würde des Menschen gilt für alle Menschen, die hier leben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

In Randnummer 95 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts steht:

(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Das müssen Sie noch mal lesen!)

„Auch migrationspolitische Erwägungen,“ – wie sie im Antrag der CDU/CSU wieder auftauchen – „die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize … zu vermeiden“

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Sie haben wieder mal überhaupt nicht zugehört, Herr Strengmann-Kuhn!)

– hören Sie mal dem Bundesverfassungsgericht zu, Herr Stracke;

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Stephan Stracke [CDU/CSU]: Nein! Es geht doch gar nicht um pauschale Kürzungen! Sie reden darüber immer! Uns geht es um individuelle Bedarfe!)

trinken Sie mal einen Beruhigungstee und besinnen Sie sich mal ein bisschen –,

(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Sie sind ein verfassungsrechtlicher Novize!)

migrationspolitische Begründungen dürfen keine Rolle spielen.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

So, wie Sie Ihren Antrag begründen, ist er verfassungswidrig.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Und Sie gehen ja noch weiter.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Ich muss Ihnen sonst das Wort entziehen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sie wollen Artikel 20 ändern. Das ist nach dem Grundgesetz gar nicht erlaubt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Stephan Stracke [CDU/CSU]: Artikel 20a!)

Damit verlassen Sie den Boden des Grundgesetzes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie uns – –

(Das Mikrofon wird abgeschaltet)