Rede von Erhard Grundl Mahnmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Zeugen Jehovas

Foto von Erhard Grundl MdB
11.05.2023

Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Primo Levi in seinem Auschwitz-Bericht „Ist das ein Mensch?“ schreibt, war für sein Überleben entscheidender als das Essen, mit dem ihn ein italienischer Zivilarbeiter versorgte, dessen menschliche Güte, weil sie ihn – ich zitiere – „daran erinnerte, dass noch eine gerechte Welt außerhalb der unseren existierte“ – ein Prinzip Hoffnung, für das auch die Zeugen Jehovas standen.

Während die Massen, darunter viele Christen, Hitler zujubelten, waren die Zeugen Jehovas die einzige christliche Religionsgemeinschaft, die unverrückbar einem ethischen Kompass folgte. Die Zeugen Jehovas leisteten Widerstand. Anders als viele, die nach 1945 zwölf Jahre lang die Faust in der Tasche gehabt haben wollten, war ihr Widerstand aktiv. Sie widerstanden im Alltag und verweigerten die Gefolgschaft. Den Hitlergruß lehnten sie ab. Sie verweigerten sich jeder Gleichschaltung, lehnten Mitgliedschaften in Parteien und politischen Massenorganisationen ebenso ab wie den Militärdienst. Damit standen sie in einem permanenten Konflikt mit der autoritären und totalitären politischen Ordnung.

Und schließlich waren die Zeugen Jehovas auch Zeitzeugen, die die Verbrechen der Nationalsozialisten in Deutschland dokumentierten. 1934 wandten Sie sich mit Protestbriefen an die Reichsregierung. Sie schmuggelten Verfolgungsberichte ins Ausland. Es folgten zwei Flugblattaktionen mit über 100 000 Protestflugblättern, zwischen 1933 und 1945 wohl die größte Aktion dieser Art in unserem Land. In diesen Flugblättern wurden Verbrechen und Täter benannt.

Außerdem stellten die Zeugen Jehovas die größte Gruppe der Kriegsdienstverweigerer. Kriegsdienstverweigerung galt als „Wehrkraftzersetzung“ und wurde mit der Todesstrafe geahndet. Die sogenannten Mütter und Väter des Grundgesetzes haben auch unter Verweis auf die Zeugen Jehovas das Recht auf Wehrdienstverweigerung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert.

Ihr offener Widerstand ließ die Zeugen Jehovas für die Diktatur zu ernstzunehmenden Gegnern werden. Das hatte Folgen: Die Zeugen Jehovas waren die erste Opfergruppe, die gezielt und erbarmungslos verfolgt wurde. Obwohl Sie nur 0,03 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, handelte es sich bei 80 Prozent der von den Nationalsozialisten hingerichteten Menschen um Zeugen Jehovas, mehr als 12 000 Opfer.

Die Rolle der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus ist in der Öffentlichkeit bis heute wenig bekannt. Wie die Opfergruppe der damals sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher gehörten sie zu einer vergessenen Opfergruppe.

Der vorliegende Antrag soll die historische Bedeutung dieser Opfergruppe würdigen. Ich freue mich, dass wir heute als Koalition gemeinsam mit der Union diesen Antrag für die Errichtung des Mahnmals für die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas ins Parlament einbringen, und ich möchte mich an dieser Stelle für die kollegiale Zusammenarbeit bedanken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Der ersten Lesung soll eine öffentliche Anhörung im Ausschuss folgen.

Der nationalsozialistische Verfolgungsapparat zielte darauf ab, die Identität der Menschen zu brechen. Was die Zeugen Jehovas auszeichnete, war der unfassbare Mut, sich diesem Apparat konsequent entgegenzustellen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Annette Widmann-Mauz hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)