Rede von Filiz Polat Migrationspolitik

Foto von Filiz Polat MdB
02.03.2023

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir diese persönliche Vorbemerkung: Auch mir fällt es schwer, wenige Tage nachdem in Kalabrien vor unserer europäischen Küste wieder viele – mehr als 60 – Geflüchtete ums Leben gekommen sind, über einen Antrag zu debattieren, der sich mit einem vermeintlichen – Helge Lindh hat es gesagt – migrationspolitischen Sonderweg beschäftigt. Meine Damen und Herren, wie selbstbezogen liest sich dieser Antrag angesichts des wöchentlichen Sterbens von Menschen im Mittelmeer oder auf anderen gefährlichen Fluchtrouten!

Frau Lindholz, Sie müssen wirklich mal aufklären, was Sie mit „illegal“ meinen. Die Geflüchteten, die uns erreichen, sind hauptsächlich Syrer/-innen, Afghaninnen und Afghanen,

(Nancy Faeser, Bundesministerin: Syrien und Afghanistan! Genau!)

Iraner/-innen, politisch verfolgte Kurdinnen und Kurden aus der Türkei, Jesidinnen und Jesiden.

(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Die kommen alle über Drittstaaten! Tut mir leid, das ist einfach so! Ganz einfach!)

Das sind bei Ihnen „Illegalisierte“. 90 Prozent aller Verfahren zu illegalen Grenzübertritten, die von der Bundespolizei statistisch so erfasst werden, werden eingestellt, weil die Menschen einen Asylantrag stellen.

(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Trotzdem kommen sie über sichere Drittstaaten!)

Wie die Statistik zeigt: Wir haben hier nach wie vor eine sehr hohe Schutzquote bei all diesen Personenkreisen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wieder einmal insinuiert die Union, dass Deutschland isoliert ist. Schlimmer noch: Sie unterstellen dieser Regierung, sie locke Menschen geradezu an, sich zu uns aufzumachen. Und wie so oft macht auch dieser Antrag nicht halt vor Einstufungen – hier die Flüchtlinge aus der Ukraine, die, die unsere volle Solidarität verdienen, und da die Asylmigranten, jene, die illegal nach Deutschland zu uns zu gelangen versuchen. Meine Damen und Herren, diese Aufteilung in Geflüchtete erster und zweiter Klasse ist und bleibt zynisch. Sie relativiert das Leid und die Bedrohung von Millionen Menschen, die vor Folter und Tod fliehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

So etwas spaltet unsere Gesellschaft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie reden von humanitärer Verpflichtung, meinen aber in Wahrheit nur Abschottung. Oder mal ganz konkret: Was heißt es, wenn Sie fordern, die gegenwärtige Lage nicht durch zusätzliche Programme zur Aufnahme von Migranten weiter zu verschärfen? Soll das heißen, Sie stellen auch infrage, dass Deutschland von Verfolgung und Tod bedrohten Menschen aus Afghanistan Sicherheit gewährt? Sie sollten die jüngsten Worte von UN-Generalsekretär Guterres beherzigen: Wir brauchen sichere, legale Routen für Migranten und Flüchtlinge. – Nichts anderes macht diese Bundesregierung, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Leider nicht! Das Gegenteil ist der Fall!)

Was Europa und vor allem die EU ausmacht, sind Demokratie und das Eintreten für die universellen Grundrechte. Das heißt für uns – gerade nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen; das sollten wir in diesem Jahr nicht vergessen –: Die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten ist unsere humanitäre Verpflichtung und eine gesamtstaatliche und gesellschaftliche Verantwortung. Sie ergibt sich schlicht aus der EU-Grundrechtecharta und der Genfer Flüchtlingskonvention, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stephan Thomae [FDP])

In Ihrem übrigens arg veralteten Antrag – so würde ich das tatsächlich bezeichnen – taucht zwar das Merz’sche Unwort vom „Sozialtourismus“ nicht auf, das hindert Sie aber nicht daran, Botschaften der Abschottung auszusenden und wider besseres Wissen weiter Ihre Mär vom Sonderweg zu verbreiten, auf dem sich diese Regierung vermeintlich befinde. Interessant ist: Sie legen einen Antrag zur Migrationspolitik vor und bringen es fertig, dass auf knapp drei Seiten nicht ein einziges Mal das Wort „Integration“ vorkommt. Das muss man erst mal fertigbringen, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das war auch nicht das Thema!)

Setzen Sie doch mal Ihre Fantasie ein. Was ließe sich bewirken, wenn die Millionensummen, die auf EU-Ebene in immer neue Grenz- und Kontrollsysteme, in Zäune und Mauern fließen – im Übrigen mit deutschem Steuergeld –, stattdessen in die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten, in ein funktionierendes Asylsystem, in faire und zügige rechtsstaatliche Verfahren investiert würden?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Deshalb ist es gut, richtig und wichtig, dass das Spitzentreffen zur Flüchtlingspolitik auf Einladung unserer Bundesinnenministerin stattgefunden hat. Herzlichen Dank noch mal, Frau Ministerin Faeser! Wir sind dankbar dafür, dass Sie erstmals Bund, Länder und Kommunen an einen Tisch gebracht haben und – das haben Sie gestern auch im Innenausschuss betont – dass zum ersten Mal – eigentlich sollte es selbstverständlich sein – die für Integration zuständigen Minister/-innen an der Sitzung teilnehmen konnten.

Denn darum geht es doch: Wenn wir von Flucht und Migration sprechen, müssen wir gleichzeitig über die Integration dieser Menschen reden. Wir sorgen dafür, dass Menschen so schnell wie möglich Zugang zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt bekommen. Die Union will stattdessen an Arbeitsverboten festhalten. Wie absurd ist das denn, meine lieben Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Für Identitätstäuschung!)

Wir reden hier von einer gesamtstaatlichen Aufgabe. Und ja, wir reden auch über Geld oder, besser gesagt, über Investitionen in Bildungsinfrastruktur und in den sozialen Wohnungsbau. Ich rufe dazu in Erinnerung: Auch Ihre Regierung, der Bund, hat sich im Jahr 2016 mit 8 Milliarden Euro an den flüchtlingsbezogenen Kosten beteiligt. Das ist der Maßstab, an dem wir uns orientieren, meine Damen und Herren.

Es ist gut und richtig, dass wir heute und regelmäßig über das Thema „Migration und ihre Herausforderungen“ debattieren, natürlich auch kontrovers. Aber bitte, die Auseinandersetzungen über Verteilung und Finanzierung dürfen nicht auf dem Rücken von Geflüchteten ausgetragen werden. Das führt nämlich zu Situationen wie in Upahl, Frau Lindholz. Sie vergessen, dass in Upahl eine große völkische Siedlung ist und Rechtsextreme diese Bürger/-innen unterwandert haben. Das müssen Sie zur Wahrheit dazusagen; das ist höchstgefährlich.

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Blödsinn!)

Ihre Antwort darauf ist, dass Flüchtlinge nicht mehr nach Deutschland kommen dürfen. Damit sind Sie nur der Nährboden für die Gesinnung solcher Menschen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das ist eine Frage des Maßes! – Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Realitätsverweigerung!)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Filiz Polat (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich komme zum Schluss Frau Präsidentin. – Ich habe meine Rede mit der Erinnerung an die Tragödie vor Kalabrien eingeleitet. Schon vor gut zehn Jahren fragte die Bürgermeisterin der unweit gelegenen Inselgemeinde Lampedusa, Frau Nicolini: Wie groß muss der Friedhof auf meiner Insel noch werden? Die Frage ist bis heute noch nicht beantwortet worden, und sie beschämt uns bis heute. Wir werden Ihren Antrag ablehnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat die Abgeordnete Joana Cotar.

(Beifall des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])