Rede von Frank Bsirske Mindestlohn

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28.04.2022

Frank Bsirske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Abgeordnete! Erinnern wir uns: Bevor 2015 eine gesetzliche Lohnuntergrenze eingezogen wurde, befanden sich die Löhne in vielen Bereichen auf einer Rutschbahn nach unten, begünstigt durch eine sinkende Tarifbindung. Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung und das Ausscheren vieler Unternehmen aus Tarifverträgen führten dazu, dass immer mehr Menschen, statt von Tarifverträgen geschützt zu sein, sich mit der Rückkehr von Unsicherheit konfrontiert sahen: damit, das eigene Leben in Zeiten prekärer Arbeitsverhältnisse nicht mehr wirklich planen zu können, damit, von Armut bedroht zu sein, obwohl sie arbeiteten – arbeitende Armut eben.

Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns war ein wichtiger Schritt, dem entgegenzutreten. Es war eine Reaktion auf die anhaltend rückläufige Tarifbindung und entsprach dem Willen der großen Mehrheit der Menschen in unserem Land, die nämlich nicht in einer Gesellschaft leben wollen, in der Arbeit armmacht und entwürdigt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Mit dem Mindestlohn ist klargestellt worden, dass es rote Linien gibt, die zu überschreiten politisch nicht zugelassen werden soll, genauso wie es seinerzeit ein US-Präsident – Franklin Delano Roosevelt – auf den Punkt gebracht hat, als er bei der Einführung des nationalen gesetzlichen Mindestlohns sagte – Zitat –:

Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Wenn wir heute, sieben Jahre nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland, schauen, wo wir stehen, so müssen wir feststellen: Deutschland befindet sich im langfristigen EU-Vergleich weit abgeschlagen auf einem der letzten Plätze. Der Mindestlohn ist seit seiner Einführung um nur 15,5 Prozent gestiegen. Da bleibt nach Abzug der Inflation nur eine reale Steigerung von weniger als 1 Prozent pro Jahr. Dem wollen wir nicht länger zuschauen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Mit der Anhebung auf 12 Euro bringen wir den deutschen Mindestlohn in die Nähe des auch von der EU‑Kommission für notwendig gehaltenen Richtwerts von 60 Prozent des Medianlohns – jenseits der Armutsgefährdung – und verbessern so die Entlohnung von rund 6 Millionen Menschen in unserem Land. Das hilft gerade jetzt vielen angesichts steigender Preise, die die Menschen mit niedrigen Einkommen ja besonders hart treffen. Von der Anhebung profitieren insbesondere Menschen in den neuen Bundesländern und vor allem auch Frauen; denn sie haben doch ein doppelt so hohes Risiko wie Männer, zu Löhnen unterhalb von 12 Euro zu arbeiten.

Es ist durchaus bemerkenswert, wie jetzt darauf reagiert wird. Dieselben Arbeitgeberverbandsfunktionäre, die sich öffentlich – wie in der Mindestlohnkommission – stets gegen deutliche Anhebungen des Mindestlohns gesträubt haben, erklären nun, das Problem sei ja gar nicht die Höhe von 12 Euro – die sei durchaus vertretbar –, das Problem sei, dass der Schritt politisch beschlossen werden solle. Das sind dieselben Leute, die seit vielen Jahren die Augen davor verschließen, dass die Tarifbindung kontinuierlich sinkt: von rund 85 Prozent Anfang der 90er-Jahre auf knapp 50 Prozent heute. Das sind dieselben Leute, die OT‑Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden kultivieren und bestens damit klarkommen, dass Tarifunterbietung zum Zwecke zusätzlicher Profite und höherer Dividenden längst auch in der Beletage deutscher Unternehmen angekommen ist, wie zum Beispiel in der hochprofitablen Wohnungswirtschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jawoll!)

Zur weiteren Deregulierung braucht man bei einer solchen Ausgangslage keine neuen Gesetze mehr. Staatliches Nichtstun reicht vollkommen aus. Dann könnte sich die Tarifautonomie in Teilen der Wirtschaft von selbst erledigen – wenn nicht gegengesteuert wird. Dazu aber – gegenzusteuern – sind wir fest entschlossen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ein höherer Mindestlohn ist notwendig, reicht aber nicht aus; denn das wirkungsvollste Instrument, um die Ungleichheit der Markteinkommen zu verringern, ist und bleibt eine höhere und eine hohe Tarifbindung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Dazu werden wir ein Bundestariftreuegesetz erlassen, die kollektive Nachwirkung von Tarifverträgen im Verbund mit den Unternehmen festschreiben und weitere Schritte prüfen. Denn ohne die Stärkung des Tarifsystems, ohne die Festigung der Bindungskraft von Tarifverträgen wird sich die Ungleichheit in der Einkommensverteilung weiter verfestigen oder sogar noch erhöhen.

Ist es nun mit Risiken verbunden, den Mindestlohn in einem Schritt auf 12 Euro anzuheben? Schritte wie dieser haben nirgendwo zu relevanten negativen Konsequenzen für den Arbeitsmarkt geführt. In Großbritannien zum Beispiel ist der Mindestlohn bereits auf 60 Prozent des Medianlohns angehoben worden und soll bis 2024 weiter auf 66 Prozent erhöht werden. Die Anhebung auf 12 Euro ist deshalb auch ein Signal in Richtung Mindestlohnkommission, den Mindestlohn mutig weiterzuentwickeln, dafür zu sorgen, dass er nicht wieder unter 60 Prozent des Medians fällt, dafür zu sorgen, dass der Mindestlohn für eine auskömmliche Rente reicht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)

Da sind wir nicht, auch nicht mit 12 Euro; aber da sollten wir hin. Dass dies erreicht wird, dass es gelingt, die Tarifbindung wieder zu erhöhen, ist zentral, um faire Entlohnungsbedingungen für alle Menschen in unserem Land in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft zu ermöglichen, in der Arbeit nicht armmacht und nicht entwürdigt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki:

Vielen Dank, Herr Kollege Bsirske. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Jürgen Pohl, AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD – Stephan Brandner [AfD]: Für das Protokoll: Unsere Thüringer Wunderwaffe!)